Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel страница 35

СКАЧАТЬ Revolution gefeiert wird. Vielleicht ist es das Erinnerungsfest des Tages, an dem das Komitee seine politischen Feinde durch Mord aus dem Weg räumte, um endgültig die Macht zu ergreifen? Gleichviel, welcher Gedenktag auch gefeiert werden mag, die Menge tobt und brüllt. Vor einem Geschäftshaus eine dicke Stauung! Junge Leute steigen auf bereitwillige Schultern, erklettern das Gesimse, und in der nächsten Minute poltert eine große Firmentafel zur Erde. Lepsius, der in den Menschenknäuel geraten ist, fragt einen Nachbarn, der keinen Fez trägt, nach dem Sinn dieser Geschehnisse. Es werden keine fremden Aufschriften mehr geduldet, hört er, die Türkei den Türken, alle Wegweiser, Straßen- und Geschäftstafeln dürfen nur mehr einsprachig türkisch sein! Und der Nachbar (wahrscheinlich ein Grieche oder Levantiner) lacht boshaft: »Da haben sie aber diesmal unsere Verbündeten demoliert. Es ist ein deutsches Geschäft.«

      In langer Reihe drängen sich die aufgehaltenen Straßenbahnzüge hintereinander. Es ist eigentlich gleichgültig, denkt Lepsius, wann ich hinkomme, die Sache ist verloren. Dennoch aber nimmt er einen Anlauf und zerteilt mit rücksichtslosen Stößen die Menge. Noch eine Seitengasse, dann öffnet sich der Platz vor ihm. Das große Palais des Seraskeriats. Hoch ragt der Turm Mahmuts des Zweiten. Jetzt läßt sich der Pastor Zeit. Er beginnt langsam zu gehn, um die Löwenhöhle nicht atemlos zu betreten. Als er, durch endlose Treppen und Gänge zermürbt, seine Karte im Büro des Kriegsministeriums abgibt, erhält er von einem eleganten, überaus freundlichen Ordonnanzoffizier den Bescheid, Exzellenz Enver Pascha bedaure lebhaft, daß es ihm unmöglich war, länger zu warten, er bitte aber den Herrn, ihn im Ministerium des Innern im Serail mit seinem Besuch zu beehren.

      Johannes Lepsius hat jetzt einen noch weit längeren Weg zurückzulegen als vorher. Aber diesmal ist die Verhexung völlig gebrochen, die Dämonen haben sich eines anderen besonnen, sie drängen ihm gewissermaßen die Bequemlichkeit auf. Vor dem Tor wartet ein eben frei gewordener Wagen, der Kutscher ist auf gute Fahrt bedacht, er vermeidet die volkreichen Stätten und in zauberhaft kurzer Zeit erreicht der Kämpfer, völlig ausgeruht und von einer ihm selbst unbegreiflichen Zuversicht durchströmt, die stille Welt des Serails, um alsbald mit Donnerhufen auf dem alten Katzenkopfpflaster dem Ministerium entgegenzurollen. Hier ist er erwartet. Ehe er noch die Karte zückt, empfängt ihn ein Beamter mit der Frage: »Dr. Lepsius?« Welch günstige Vorbedeutung! Wieder Treppen und ein langer Gang. Diesmal aber glaubt er, von guten Ahnungen getragen, leichtfüßig dahinzuschweben. Das stille Ministerium des Innern, Talaat Beys Festung, macht einen angenehm verträumten Eindruck auf ihn. Märchenhaft beinahe wirken die Amtszimmer, die keine Türen haben, sondern nur von sich blähenden Vorhängen abgeschlossen sind. Auch dies beruhigt ihn, er weiß nicht warum, als gute Vordeutung. Er wird am Ende des Ganges in ein besonderes Appartement geführt. Es ist das Hauptquartier Enver Paschas im Ministerium des Innern. In diesen beiden Räumen hier sind gewiß die Würfel über das armenische Schicksal geworfen worden. Ein größeres Zimmer, dem Anschein nach ein Warte- und Sitzungssaal, und daneben ein Kabinett mit einem großen leeren Schreibtisch. Der Vorhang zu diesem Kabinett ist zurückgeschlagen. Lepsius bemerkt an der Wand über dem Schreibtisch drei Bilder. Rechts Napoleon, links Friedrich der Große, und dazwischen die vergrößerte Photographie eines türkischen Generals, ohne Zweifel Enver Pascha, der neue Kriegsgott.

      Der Wartende setzt sich ans Fenster. Sein Auge saugt, über den Kneifer hinweg, Ruhe aus dem schönen Bild des Verfalls, aus Kuppelsturz und Marmorbruch, von Pinien beschirmt. Dahinter der Bosporus mit spielzeughaft dahinschiebenden Dampferchen. Der kurzsichtige, blau in die Ferne gerichtete Blick des Pastors, der kindliche Mund, der sich aus dem sanften, grauen Bärtchen hervorwölbt, die strengen Wangen, die noch von Eile und Not gerötet sind, all dies bildet einen Ausdruck von Leiden und von Schwärmerei, die gegen sich selbst unerbittlich ist. Ein Diener bringt eine Kupferkanne mit Kaffee. Lepsius genießt gierig drei, vier Schalen hintereinander. Durch diesen Kaffee wird ihm ein Vorsprung gegeben, seine Nerven spannen sich, die Adern treiben frischer das Blut zum Kopf. Als Enver Pascha eintritt, hat Lepsius gerade die letzte Tasse geleert.

      Johannes Lepsius hat sich schon in Berlin Enver Pascha genau beschreiben lassen, dennoch ist er sehr überrascht, daß der türkische Mars, einer von den sieben oder neun Herren über Leben und Tod der Welt, so klein gewachsen und unansehnlich ist. Er begreift sofort Napoleons und Friedrichs Bilder. Heroen von 1,60 Körpermaß, geniale Gernegroßen, die ihren Erfolg gegen körperliches Zukurzgeratensein durchgesetzt haben. Lepsius möchte wetten, daß Enver Pascha hohe Absätze trägt. Die Persianerkappe, die er nicht ablegt, geht jedenfalls über die Höhe der Adjustierungsvorschrift hinaus. Die goldverschnürte Marschalls- (oder Phantasie-) Uniform ist wundervoll in die Taille geschnitten, hebt durch ihren straffen, knappen Sitz die Gestalt und verleiht ihr im Bunde mit zwei blitzenden Reihen von Orden etwas Leichtsinnig-Jugendliches und Zierlich-Wagemutiges. ›Zigeunerbaron‹, denkt Lepsius und kann sich, während sein Herz immer schneller klopft, eines energischen Walzers aus fernen Jugendtagen nicht erwehren:

      Dies und noch mehr

       Kann ich auf Ehr ...

      Die Textworte aber, die ihn im Hinblick auf die strahlende Uniform anwandeln, stehen ganz und gar im Widerspruch zu Wesen und Anblick des jungen Generalissimus. Enver Pascha hat einen verlegenen, ja manchmal schüchternen Gesichtsausdruck und einen Augenaufschlag wie ein Mädchen. Mit seinen schmalen Hüften und abfallenden Schultern bewegt er sich fein und anmutig. Lepsius kommt sich plump vor. Der erste Angriff, den der Feind gegen ihn führt, besteht in einer jähen Sympathie mit seiner tänzerischen Erscheinung, die er in dem Besucher zu erwecken weiß. Nach den Begrüßungsworten führt er ihn nicht in das anstoßende Kabinett, sondern bittet ihn, Platz zu behalten, und rückt sich sofort einen Stuhl von dem Sitzungstisch zum Fenster, ohne auf die Lichtverteilung zu achten, die für ihn ungünstig ist.

      Johannes Lepsius eröffnet das Gespräch (so hat er sich's in seinem Kampfprogramm zurechtgelegt) mit dem Gruß einer deutschen Verehrerin, den er dem General überbringt. Dieser lächelt mit dem ihm eigenen verlegenen Reiz und bekennt mit einem angenehmen Tenor, der die Harmonie seiner Erscheinung auch stimmlich zu voller Geltung bringt, in gutem Deutsch:

      »Ich achte die Deutschen sehr hoch. Sie sind ohne Zweifel das erstaunlichste Volk der Welt. In diesem Kriege leisten sie Unübertreffliches. Ich persönlich freue mich immer, wenn ich einen deutschen Herrn hier bei mir begrüßen darf.«

      Pastor Lepsius weiß sehr wohl, daß Enver Pascha im Komitee die französische Partei vertrat und vielleicht heimlich noch immer vertritt und daß er sich lange dagegen gesträubt hat, an der Seite Deutschlands und nicht der Alliierten in den Krieg zu treten. Da diese Frage aber im Augenblick ganz gleichgültig ist, fährt Lepsius in dem tastenden Austausch von Höflichkeiten fort:

      »Exzellenz besitzen in Deutschland eine große Anzahl von ergebenen Bewunderern. Man erwartet von Ihnen weltbewegende Taten.«

      Augenaufschlag Envers. Eine kleine Gebärde der Hand, welche sich gegen die Anforderungen, die in solcher Schmeichelei stecken, müde zu wehren scheint. Schweigen, das ungefähr bedeutet: Nun sieh zu, mein Lieber, wie du mich in deine Gasse kriegst. Lepsius wendet den Kopf lauschend zum Fenster, durch das kein anderer Laut dringt als das leise Pfeifen und Klingeln des Bosporus-Verkehrs:

      »Ich habe die Bemerkung gemacht, daß die Stimmung hier in Stambul sehr begeistert ist. Besonders heute herrscht ein imposantes Treiben.«

      Der General entschließt sich mit seiner angenehmen, aber jetzt gleichgültigen Stimme zu einem Kernsatz im Stil patriotischer Verlautbarungen:

      »Der Krieg ist schwer. Aber unser Volk weiß, was es sich schuldig ist.«

      Erster Ausfall des Deutschen:

      »Ist es im Innern ebenso, Exzellenz?«

      Enver schaut erfreut in die fernste Ferne:

      »Gewiß, im Innern gehen große Dinge vor sich.«

      »Exzellenz, СКАЧАТЬ