Lepsius krampft die Hände zusammen, sagt aber kein Wort. Dieser verspielte und verzogene Knabe dort ist der unbeschränkte Herr über eine Weltmacht. Sein feingemodeltes, verführerisches Köpfchen brütet Zahlen aus, die jeden Kenner der Wirklichkeit in Erstaunen versetzen müssen. Dem Pastor kann er nichts vormachen, denn der weiß genau, daß es in Anatolien kaum sechs Millionen reine Türken gibt. Wenn man nach Nordpersien, nach dem Kaukasus, nach Kaschgar und Turkestan geht, wird man zusammen mit allen zeltbewohnenden Turkvölkern und umherziehenden Rossedieben in Steppenländern groß wie halb Europa keine zwanzig Millionen herausschaben. Solche Träume, denkt er, erzeugt das Narkotikum des Nationalismus. Zugleich aber wandelt ihn ein Mitleid mit dem zartgestaltigen Kriegsgott an, mit diesem kindischen Antichrist. Johannes Lepsius bekommt eine leise, wissensschwere Stimme:
»Sie wollen ein neues Reich gründen, Exzellenz. Doch der Leichnam des armenischen Volkes wird unter seinen Grundmauern liegen. Kann das Segen bringen? Ließe sich nicht noch jetzt ein friedlicher Weg finden?«
Hier entblößt Enver Pascha zum erstenmal die tiefere Wahrheit. Er lächelt nicht mehr zurückhaltend, seine Augen werden starr und kalt, die Lippen weichen von einem großen, gefährlichen Gebiß:
»Zwischen dem Menschen und dem Pestbazillus«, sagt er, »gibt es keinen Frieden.«
Lepsius packt sofort zu:
»Sie bekennen sich also offen zur Absicht, den Krieg zur völligen Ausrottung der armenischen Millet benützen zu wollen? ...«
Der Kriegsminister ist unbedingt zu weit gegangen. Er lenkt auch sofort ein, indem er sich wieder in die uneinnehmbare Festung seiner verbindlichen Unverbindlichkeit zurückzieht:
»Meine persönlichen Meinungen und Absichten sind vollinhaltlich in den Kommuniqués enthalten, die unsere Regierung zu diesem Gegenstand veröffentlicht hat. Wir handeln unter dem Zwang des Krieges und der Notwehr, nachdem wir die längste Zeit zugesehen und gewartet haben. Staatsbürger, die auf den Untergang des Staates hinarbeiten, verfallen überall der Schärfe des Gesetzes. Unsere Regierung geht demnach rechtmäßig vor.«
Da wäre man wieder am Anfang. Johannes Lepsius kann einen stöhnenden Laut nicht unterdrücken. Er hört die Stimme Monsignore Sawens: Nicht moralisieren! Sachlich bleiben! Argumente! Oh, könnte er doch nur mit schwerterscharfen Argumenten sachlich bleiben! Doch schon, daß er nicht aufspringen darf, daß er auf seinem Sessel sitzen bleiben muß, bringt seine Nerven zur Verzweiflung. Er, der geborene Kanzel- und Versammlungsredner, braucht Platz, braucht Bewegungsfreiheit!
»Exzellenz« – er preßt die Hand auf seine schöne Stirn –, »ich werde jetzt keine Selbstverständlichkeiten sagen, nicht, daß man für die Umtriebe einzelner ein ganzes Volk nicht büßen lassen darf, ich werde nicht fragen, warum Frauen und Kinder, kleine Kinder, wie Sie ja auch einmal eines waren, wegen einer Politik, von der sie nie etwas gehört haben, den bestialischesten Tod erleiden müssen. Ich will Ihren Blick auf Ihre und Ihres eigenen Volkes Zukunft lenken, Exzellenz! Auch dieser Krieg geht einmal zu Ende, und dann steht die Türkei vor der Notwendigkeit, Friedensverhandlungen zu führen. Möge dieser Tag für uns alle ein glücklicher Tag sein. Wenn er aber ein unglücklicher Tag ist, was dann, Exzellenz? Muß der verantwortliche Führer eines Volkes nicht auch für den Fall eines ungünstigen Kriegsendes Vorsorge treffen? In welcher Verhandlungslage aber wird sich die ottomanische Friedenskommission befinden, wenn man sie mit der Frage empfangen wird: Wo ist dein Bruder Abel? Eine höchst peinliche Situation. Und die Mächte des Sieges werden, was Gott verhüten möge, im Hinblick auf die große Schuld rücksichtslos die Beute verteilen. General Enver Pascha, wie wird sich in einem solchen Fall der größte Mann seines Volkes, der alle Verantwortung übernommen hat, dessen Wille allmächtig war, wie wird er sich dann vor diesem seinem eigenen Volk verteidigen?«
Enver Pascha bekommt träumerische Augen und sagt ohne Spott:
»Ich danke Ihnen für diesen ausgezeichneten Hinweis. Aber wer sich in die Politik einläßt, muß zwei Eigenschaften besitzen. Erstens einen gewissen Leichtsinn oder, wenn Sie wollen, Todesverachtung, was ja dasselbe ist, und zweitens den unerschütterlichen Glauben an seine Entschlüsse, wenn sie einmal gefaßt sind.«
Hier erhebt sich Pastor Lepsius. Er kreuzt, fast nach orientalischem Brauch, die Arme über die Brust. Der von Gott gesandte Schutzengel des armenischen Volkes ist in beklagenswerter Verfassung. Das Sacktuch hängt ihm aus der Tasche, ein Beinkleid ist bis zum Knie gerutscht, die Krawatte wandert immer weiter. Auch scheint sein Augenglas angelaufen zu sein.
»Ich beschwöre Sie, Exzellenz« – er verbeugt sich vor dem Dasitzenden –, »lassen Sie es mit dem heutigen Tag genug sein! Sie haben an dem innern Feinde, der es nicht ist, ein Exempel statuiert, wie es in der Geschichte nicht wieder zu finden ist. Hunderttausende leben und sterben auf den Landstraßen des Ostens. Machen Sie ein Ende heute! Befehlen Sie, daß die neuen Umsiedlungsweisungen zurückgehalten werden! Ich weiß, daß noch nicht alle Vilajets und Sandschaks entvölkert sind. Wenn Sie des deutschen Botschafters wegen und für Herrn Morgenthau mit den großen Deportationen im westlichen Kleinasien zögern, so schonen Sie um meinetwillen Nordsyrien, Aleppo, Alexandrette, Antiochia und die Küste! Sagen Sie, es ist genug! Und ich werde nach meiner Rückkehr in Deutschland Ihren Namen preisen!«
Der Generalissimus weist mehrmals mit geduldiger Hand auf den Stuhl, der Pastor aber setzt sich nicht.
»Sie überschätzen meine Kompetenzen, Herr Lepsius«, erklärt er endlich. »Die Durchführung eines solchen Regierungsbeschlusses ist Sache des Herrn Ministers des Innern.«
Der Deutsche reißt den Zwicker von seinen roten Augen:
»Um diese Durchführungen handelt es sich ja. Nicht der Minister, nicht der Wali, nicht der Mutessarif führt die Befehle durch, sondern rohe, herzlose Subalterne und Unteroffiziere. Ist es vielleicht Ihr Wille, oder der Wille des Ministers, daß Frauen auf offener Straße niederkommen und sofort mit dem Knüppel weitergehetzt werden? Ist es vielleicht Ihr Wille, daß ganze Landstriche von verwesten Leichen verpestet sind, daß der Euphrat dick vor Toten ist? Diese Durchführungen sind mir bekannt.«
»Ich schätze Ihre Kenntnisse des Innern«, kommt ihm Enver ein wenig entgegen, »und werde Ihre schriftlichen Vorschläge, was eine Verbesserung dieser Dinge anbelangt, gerne entgegennehmen und genau prüfen.«
Lepsius aber breitet die Arme aus:
»Schicken Sie mich hinunter! Das ist mein erster Vorschlag. Nicht einmal der alte Sultan hat mir diese Bitte damals abgeschlagen. Geben Sie mir die Vollmacht, die Verschickungstransporte zu organisieren. Gott wird mir die Kraft schenken, und Erfahrung besitze ich wie kein zweiter. Ich brauche keinen Piaster vom ottomanischen Staat. Alle notwendigen Geldmittel werde ich aufbringen. Deutsche und amerikanische Hilfsvereine stehen hinter mir. Schon einmal ist mir ein großes Hilfswerk gelungen, ich habe viele Waisenhäuser und Hospitäler gegründet und mehr als fünfzig Wirtschaftsbetriebe einrichten helfen. Ich werde trotz des Krieges dasselbe und Größeres noch zustande bringen, und nach zwei Jahren werden Sie selbst, Exzellenz, mir dankbar sein.«
Enver Pascha hat diesmal nicht nur mit der gewohnten Aufmerksamkeit, sondern mit Spannung zugehört. Doch jetzt bekommt Lepsius etwas zu sehen und zu hören, was er bisher noch nicht erlebt hat. Es ist keine spöttische Grausamkeit, kein Zynismus, was den so knabenhaften Gesichtsausdruck des Generals verändert. Nein, Lepsius sieht jetzt das arktische Antlitz des Menschen, der »alle Sentimentalität überwunden« hat, das Antlitz des Menschen, der außerhalb der Schuld und ihrer Qualen steht, er sieht das hübsche Präzisionsgesicht einer СКАЧАТЬ