Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel страница 34

СКАЧАТЬ nicht, daß auch ihr Streit nur den Kampf spiegelt, der längst ausgetragen ist in der Brust des Höchsten, aus dem die Ruhe und Unruhe quillt.

      Gerade in dem Augenblick, da Doktor Johannes Lepsius, den Kutscher seiner Droschke antreibend, die große Brücke erreicht, die von der Gartenstadt Pera hinüber nach Stambul führt, setzt sich das automatische Glockenzeichen in Bewegung, der Schlagbaum sinkt herab, die Brücke beginnt zu zittern wie ein lebendiges Wesen, bricht aufstöhnend mitten entzwei, und ihre beiden eisengerüstigen Teile hüben und drüben schweben langsam empor, um ein Kriegsschiff in den innersten Hafen des Goldenen Horns einzulassen. »Das ist aber wirklich furchtbar«, sagt Lepsius deutsch und laut, während er mit geschlossenen Augen in den zerschlissenen Polstersitz der Araba zurücksinkt, als wolle er den Kampf aufgeben. Doch schon in der nächsten Sekunde springt er aus der Droschke, drückt dem Kutscher einige vorher nicht abgezählte Piasterstücke in die Hand und läuft, einmal über eine Fruchtschale ausgleitend und fast hinstürzend, über die Treppe zum Quai hinab, wo ein paar Kajiks, kleine überfuhrboote, auf Fahrgäste warten. Viel Auswahl bietet sich ihm nicht, denn nur zwei alte phlegmatische Barkenführer träumen in ihren Kähnen und scheinen sich um einen Verdienst durchaus nicht zu reißen. Johannes Lepsius springt in eines der Kajiks und deutet mit einer schier verzweifelten Geste hinüber auf die Stambul-Seite. Er hat noch sechs Minuten Zeit, um zur angegebenen Stunde im Seraskeriat, im Kriegsministerium, zu sein. Selbst wenn sich der Bootsmann tüchtig ins Zeug legt, braucht er allein schon zehn Minuten, um den Meeresarm zu überqueren. Am Quai drüben – so rechnet der Ungeduldige – werden gewiß einige Droschken ihren Standplatz haben. Er kann also von dort in weitern fünf Minuten beim Ministerium sein. Wenn alles gut geht, fünfzehn Minuten weniger sechs: Neun Minuten Verspätung! Sehr unangenehm, aber immerhin noch glimpflich. – Natürlich geht alles schlecht. Der Schiffer, nach Venezianerart das Fahrzeug vorwärtsstoßend, ist durch keinen Zuruf und keine Beschwörung aus seiner bedächtigen Ruhe zu bringen. Die Barke tänzelt und stößt nicht vorwärts. »Die Strömung, Effendi, das Meer kommt herein«, so deutet der verwitterte Türke das Verhängnis, gegen welches er machtlos ist. Zum Überfluß kreuzt ein Fischkutter an ihrer Nase vorbei, was wieder einen Zeitverlust von zwei Minuten bedeutet. Dumpfohnmächtig, wie nur ein Mensch es sein kann, der auf dem Wasser dahinschaukelt, versinkt der Deutsche in sich. Um dieser einen Stunde willen hat er die Strapaze der Reise auf sich genommen, ist er von Potsdam nach Konstantinopel gekommen, hat er Tag für Tag hier unermüdlich den deutschen Botschafter belagert, und nicht nur diesen, sondern die Vertreter aller neutralen Mächte. Um dieser einen Stunde willen hat er jeden Deutschen oder Amerikaner, der aus dem Innern kam, in allen möglichen Quartieren aufgesucht und um Details angebettelt. Um dieser einen Stunde willen ist er tagelang im Büro der amerikanischen Bible-House-Gesellschaft gesessen, hat die verschiedensten Ordensleute belästigt, hat auf wohlbedachten Umwegen, um den Spitzeln zu entgehen, sich mit armenischen Freunden in verborgenen Zimmern getroffen, dies alles nur, um für die große Begegnung wohlgerüstet zu sein. Und jetzt spielt ihm das Schicksal den Streich, daß er die Zeit nicht einhalten kann. Man könnte fast an dämonische Gegenwinde glauben. Wie hat sich der liebenswürdige Korvettenkapitän von der deutschen Militärmission geplagt, um diese Unterredung zu vermitteln. Dreimal wurde sie zugestanden und dreimal wieder abgesagt. Enver Pascha ist der Kriegsgott des ottomanischen Reiches. Mit einem so unbedeutenden Feinde, wie es Doktor Johannes Lepsius ist, macht er nicht viel Geschichten.

      So, die zehn Minuten sind um. Enver gibt den Befehl, diesen deutschen Querulanten keinesfalls mehr vorzulassen, und die Sache ist verspielt. Mag sie verspielt sein! Mein eigenes Volk kämpft um sein Leben. Der schwarze Reiter mit der Waage ist auch über ihm. Was gehn mich denn die Armenier an? Johannes Lepsius quittiert diese lügenhafte Beruhigung durch ein leeres, kurzes Aufschluchzen. Nein, diese Armenier gehen ihn sehr viel an, mehr sogar, wenn er sein Herz mit Grausamkeit prüfen wollte, mehr als sein eigenes Volk gehen sie ihn an, mag so etwas auch sündhaft und verrückt sein. Seit den Tagen Abdul Hamids, seit den Metzeleien von 96, seit seiner ersten Reise ins Innere, seit dem Beginn seines Missionswerkes, fühlt er sich gesandt zu diesen Unglückseligen. Sie sind seine irdische Aufgabe. Und sofort sieht er einige ihrer Gesichter. Und alle schauen aus den riesigen Armenieraugen ihn an. Solche Augen haben nur Wesen, die den Kelch bis zur Neige leeren müssen. Jesus am Kreuz hat wohl ähnliche Augen gehabt. Und vielleicht liebt Lepsius darum dieses Volk so sehr. In die Augen des Patriarchen, des armenischen Erzpriesters der Türkei, hat er noch vor einer Stunde geblickt, das heißt, er hat seinen Blick immer wieder von den hoffnungslos brennenden Augen dieses Monsignore Sawen abwenden müssen. Übrigens ist der Besuch beim Patriarchen an der Verspätung schuld. Es war jedenfalls ein Wahnsinn, daß er noch einmal nach Hause nach Pera ins Hotel Tokatlyan gefahren ist, um sich umzukleiden. Gut, er mußte beim Patriarchen im langen schwarzen Rock erscheinen, wie es sich für einen protestantischen Geistlichen geziemt. Bei Enver wollte er aber gerade diese Eigenschaft nicht hervorkehren, ja er suchte für diese schicksalschwere Begegnung jede feierliche Anspielung zu vermeiden. Er kannte die Leute von Ittihad, seine Gegenspieler. Ein grauer Straßenanzug, ein nachlässiger Sprechton, sicheres Auftreten, Andeutung von Mächten, die hinter ihm stehn, das war die richtige Art, mit Hasardeuren umzugehen. Und nun war der graue Straßenanzug an allem schuld.

      Er hätte bei dem Patriarchen sich nicht so lange verweilen, sondern nach einigen Minuten verabschieden sollen. Leider aber ist die pedantische Zielstrebigkeit nie seine Stärke gewesen. Selbst sein armenisches Hilfswerk nach den Metzeleien unter Abdul Hamid hat er weniger durch vernünftige Politik als durch leidenschaftliches Türeneinrennen geschaffen. Nicht umsonst frönte er hie und da noch immer dem Jugendlaster des Dichtens: »Totentanz«, »Der ewige Jude«, »John Bull« und so ähnlich. Improvisation, Abhängigkeit vom Augenblick, das ist sein Fall, er weiß es. Und so hat er sich heute nicht losreißen können von dem rührenden Priester. »Sie werden in einer Stunde vor Enver stehn« – der leisen Stimme des Monsignore Sawen merkte man die Kette der schlaflosen Nächte an, sie starb gleichsam mit ihrem Volk dahin. »Sie werden vor diesem Menschen stehen. Gott segne Sie. Aber auch Sie werden nichts erreichen.«

      »So mutlos bin ich nicht, Monsignore«, hatte Lepsius zu trösten versucht. Eine entsagungsschmerzliche Handbewegung aber schnitt ihm das Wort ab. »Wir haben heute in Erfahrung gebracht, daß nach Zeitun, Aïntab, Marasch usw. nun auch die Deportation über die ostanatolischen Vilajets verhängt ist. Außer dem Westen von Kleinasien bleibt also bisher nur Aleppo und der Küstenstrich von Alexandrette verschont. Sie wissen besser als jeder andere, daß die Deportation ein verschärfter und in die Länge gezogener Foltertod ist. Von den Bewohnern Zeituns soll niemand mehr am Leben sein.« Die Augen des Patriarchen hatten Johannes Lepsius jeden Einspruch verboten: »Lassen Sie das Unmögliche bleiben und konzentrieren Sie sich auf das Mögliche! Vielleicht gelingt es Ihnen, ich glaube es nicht, einen Aufschub für Aleppo und den Küstenstrich zu erwirken. Jeder Tag ist ein Gewinn. Pochen Sie auf die deutsche Öffentlichkeit und die Zeitungen, die von Ihnen unterrichtet werden. Vermeiden Sie vor allem eins: Moralisieren Sie nicht! Das lockt diesem Menschen nur Hohn hervor! Bleiben Sie bei den politischen Tatsachen! Drohen Sie mit der Wirtschaft, das verfängt am ehesten. – Und jetzt empfangen Sie meinen Segen, lieber Sohn, für Ihr edles Werk! Christus sei mit Ihnen!« Lepsius hatte den Kopf gebeugt, der Patriarch aber schrieb ein großes Kreuz über seine ganze Brust.

      Nun aber sitzt er da, in der schwerfälligen Barke auf den Wellen des Goldenen Horns treibend, der Schiffer stößt seine Ruder ungerührt bedachtsam ins Wasser, und als sie endlich anlegen, sind mehr als zwanzig Minuten vergangen. Mit dem ersten Blick sieht Johannes Lepsius, daß auf dem Standplatz nicht eine Araba wartet. Er lacht verzerrt vor sich hin, denn hinter dieser ausgesuchten Reihe raffinierter Hindernisse verbirgt sich mehr als Zufall. Gegnerische Mächte werfen ihm Prügel zwischen die Beine, weil er sich in die armenische Sache mengt, die wohl ihren ungehemmten Lauf nehmen soll. Er schaut sich auch nach keiner Droschke mehr um, sondern beginnt, so groß, alt und auffallend er auch ist, zu laufen. Damit kommt er nicht weit. Die Plätze und Gassen des alten Stambuls sind von einer gewaltigen, festfeiernden Menge erfüllt. Unter den beflaggten Häusern, an buntgeschmückten Läden und Cafés vorbei, schieben und stoßen sich Tausende mit Fez oder Tarbusch, schreiende fanatisierte Gesichter. Was ist geschehen? Hat man an den Dardanellen die Alliierten vertrieben? Lepsius denkt an das ferne Geschützfeuer, das er in der Nacht so oft СКАЧАТЬ