»Ihre schätzenswerten Absichten interessieren mich«, sagt Enver anerkennend, »aber ich muß sie selbstverständlich zurückweisen. Gerade diese Ihre Wünsche zeigen mir, daß wir uns bisher mißverstanden haben. Wenn ich einem Fremden gestatte, den Armeniern Hilfe zu bringen, schaffe ich damit einen Präzedenzfall, der die Einmischung fremder Persönlichkeiten und damit ausländischer Mächte anerkennt. Ich mache also meine ganze Politik zunichte, die ja die armenische Millet darüber belehren sollte, welche Folgen die Sehnsucht nach fremder Einmischung hat. Die Armenier selbst würden sich nicht mehr zurechtfinden. Zuerst bestrafe ich ihre hochverräterischen Träume und Hoffnungen, dann aber sende ich einen ihrer einflußreichsten Freunde zu ihnen, um diese Hoffnungen und Träume wieder zu erwecken. Nein, mein Herr Lepsius, das ist unmöglich, ich kann nicht gestatten, daß Ausländer diesen Leuten Wohltaten erweisen. Die Armenier müssen in uns allein ihre Wohltäter sehen.«
Der Pastor sinkt auf den Sessel. Verloren! Gescheitert! Jedes weitere Wort überflüssig. Wäre dieser Mensch dort nur böse, wünscht er sich, wäre er der Satan. Aber er ist nicht böse und nicht der Satan, er ist kindhaft-sympathisch, dieser große unerbittliche Massenmörder. Lepsius vergrübelt sich, so daß er das muntere, im vertraulichen Ton vorgebrachte Anerbieten Envers in seiner ganzen Unverfrorenheit nicht sogleich auffaßt:
»Ich mache Ihnen einen Gegenvorschlag, Herr Lepsius. Sammeln Sie Geld, sammeln Sie bei Ihren Hilfsvereinen in Amerika und Deutschland viel Geld. Die aufgebrachten Mittel bringen Sie dann mir. Ich werde sie ganz in Ihrem Sinn und nach Ihrer Bestimmung verwenden. Doch mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich keine Kontrolle durch Deutsche und andere Ausländer dulden kann.«
Wäre Johannes Lepsius nicht zu erstarrt, er würde in ein Gelächter ausbrechen. So erheiternd ist die Vorstellung jener Wege, welche sein Sammelgeld nach Enver Paschas Sinn in der Türkei gehen würde. Er schweigt. Er ist geschlagen. Obgleich er doch vor der Unterredung schon hoffnungslos war, glaubt er erst jetzt, daß die Welt zusammengestürzt sei. Um nicht ganz vergehn zu müssen, gibt sich der Pastor einen Ruck, bringt sein Äußeres ein wenig in Ordnung, fährt mit dem Taschentuch mehrmals fest über die glänzende Stirn und erhebt sich:
»Ich kann nicht annehmen, Exzellenz, daß diese Stunde, die Sie mir geschenkt haben, ganz ergebnislos verlaufen soll. In Nordsyrien und an der Küste leben hunderttausend Christen jenseits aller Kriegsereignisse. Exzellenz sind gewiß der Ansicht, daß Maßregeln, die keinem Zweck entsprechen, besser unterbleiben.«
Der jugendliche Mars zeigt noch einmal seine lächelnden Zähne:
»Seien Sie überzeugt, Herr Lepsius, daß unsere Regierung jede überflüssige Härte vermeiden wird.«
Das ist beiderseits eine leere Förmlichkeit, ein sinnloses Gaukelspiel, damit dieses politische Gespräch, wie alle Unterredungen gleicher Art, im Unbestimmten verebbe. Enver Pascha hat nicht das geringste Zugeständnis gemacht. Welche Härten überflüssig sind, das bleibt seine Sache. Doch auch Lepsius hat seine Worte, im vollen Bewußtsein ihres hohlen Schalles, nur gesprochen, um einen Abschluß zu finden. Der General, der im Gegensatz zum Pastor jetzt besonders zierlich und gestrafft erscheint, läßt dem Gast den Vortritt. Er begleitet ihn sogar ein paar Schritte und schaut dann mit seiner leicht erstaunten Undurchdringlichkeit dem Schwankenden nach, der sich durch den weiten Gang mit den wehenden Türvorhängen wie ein Blinder weitertastet.
Enver Pascha tritt in das Büro Talaat Beys. Die Beamten fahren von ihren Sitzen empor. Begeisterung strahlt von ihren Gesichtern. Noch immer hat sich die beinahe mystische Liebe nicht erschöpft, die selbst dieses papierene Schreibtischvolk dem zarten Kriegsgott entgegenbringt. Hundert glorreiche Sagen von seiner Tollkühnheit sind hier wie überall im Schwang. Als während des Krieges in Albanien ein Artillerieregiment meuterte, hat er sich, die Zigarette im Munde, vor die Mündung einer Haubitze gestellt und den Rebellen zugerufen, sie möchten nur ruhig die Zündschnur abziehen. Auf Envers seidenweichen Zügen sieht das Volk den messianischen Glanz. Er ist der gottgesandte Mann, der das Reich Osmans, Bajezids und Soleimans neu errichten wird. Der General grüßt die Beamten mit einem heiteren Zuruf, der einen übertriebenen Aufruhr von Entzücken hervorruft, überschwengliche Hände reißen die Türen auf, die durch die Kanzleienflucht in Talaats Arbeitszimmer führen. Für die erdrückende Persönlichkeit des Ministers ist dieses Kabinett zu klein. Wenn sich der Hüne, wie eben jetzt, vom Schreibtisch erhebt, verdunkelt er das Fenster. Der gewaltige Kopf Talaats ist an den Schläfen ergraut. Über den aufgeworfenen Lippen des Orientalen schwebt ein kleiner pechschwarzer Schnurrbart. Das üppige Doppelkinn drängt sich durch einen ausgeschnittenen Stehkragen. Eine weiße Pikeeweste bedeckt wie ein Sinnbild treuherziger Offenheit die ausladende Bogenfläche des Leibes. Immer, wenn Talaat Bey den Mitregenten im Duumvirat, Enver, erblickt, hat er das Bedürfnis, seine mächtige Bärentatze väterlich auf die schmale Schulter dieses begnadeten Jünglings zu legen. Jedesmal aber verhindert die Aura von eisiger Schüchternheit um Envers Gestalt diese vertraute Annäherung. Dabei ist Talaat der übersprudelnde Weltmensch und Wortführer, der fünf Diplomaten auf einmal mit seiner rauschenden Überlegenheit an die Wand spielt, während Enver, der Abgott des Volkes, der Gemahl einer kaiserlichen Prinzessin, bei irgendeinem großen Empfang oft halbe Stunden lang traumverloren und verlegen abseits stehen kann. Talaat läßt seine fleischige Riesenhand sinken und begnügt sich mit einer Frage:
»Also der Deutsche war bei dir?«
Enver Pascha wendet den Blick zum Bosporus hinaus, mit seinen spielenden Wassern, seinen eilenden Dampferchen und winzigen Kajiks, mit den im Lichte dieser Stunde unwirklich schlechtgemalten Zypressen- und Ruinenkulissen. Dann zieht er den Blick wieder ein und läßt ihn durch das leere Arbeitszimmer schweifen, bis er an einem alten Telegrafenapparat hängenbleibt, der auf einem teppichbedeckten Schautischchen steht wie eine große Kostbarkeit. Auf diesem kläglichen Ding hat der untergeordnete Post- und Telegrafenbeamte Talaat seine Morsezeichen gefingert, ehe ihn Ittihads Revolution zum ersten Staatsmann des Kalifenreiches erhob. Möge jeder Besucher dieses Wahrzeichen eines schwindelnd steilen Aufstiegs nach Gebühr bewundern. Auch Enver scheint den bedeutsamen Morseapparat mit Wohlwollen zu betrachten, ehe er sich der Frage erinnert:
»Ja, der Deutsche. Er hat ein bißchen mit dem Reichstag zu drohen versucht ...«
Diese Äußerung beweist, wie recht Monsignore Sawen hatte und daß alle menschlichen Beschwörungen des Pastors von allem Anfang an eine falsche Kampfesweise gebildet haben. Ein Sekretär bringt einen Pack Depeschen, die Talaat im Stehen zu unterschreiben beginnt. Beim Sprechen blickt er nicht auf:
»Diese Deutschen fürchten ja nur das Odium der Mitverantwortlichkeit. Sie werden uns aber noch um ganz andere Dinge betteln müssen als um die Armenier.«
Damit wäre wohl das Gespräch über die Verschickung für heute erledigt, würde nicht ein neugieriger Blick Envers die Depeschen streifen. Talaat Bey bemerkt den Blick und läßt, indem er sie schwenkt, die Papiere rauschen:
»Die genauen Weisungen an Aleppo! Mittlerweile, denke ich, dürften die Straßen wieder leerer sein. Im Laufe der allernächsten Wochen werden Aleppo, Alexandrette, Antiochia und die ganze Küste abgehen können.«
»Antiochia und die Küste«, wiederholt Enver fragend, als hätte er zu diesem Punkt eine Bemerkung zu machen. Aber er sagt keine Silbe mehr, sondern sieht gespannt auf die dicken Finger Talaats, die unaufhaltsam wie im Sturmangriff ihre Unterschrift unter die Texte setzen. Dieselben biedermännisch derben Finger haben den unchiffrierten Befehl verfaßt, der an alle Walis und Mutessarifs erging: »Das Ziel der Deportation ist das Nichts.« Die raschen Schriftzüge zeigen den Schwung einer unerbittlichen Überzeugung, die kein Bedenken kennt. Jetzt richtet der Minister seinen ungeschlachten Körper aus der gebückten Stellung auf:
»So! Im Herbst werde ich all diesen Leuten mit der größten Aufrichtigkeit antworten können: La question arménienne n'existe pas.«
Enver СКАЧАТЬ