Weniger wunderbar, doch noch weit furchtbarer wirkte die unaufhaltsame Fackelmauer auf die türkischen Soldaten, die sich noch auf den Berghängen befanden. Der Eindruck einer unfaßlichen Überzahl ging von ihr aus, als habe sich die gesamte armenische Nation zu dieser Stunde und an diesem Ort vereinigt, alle Verschickungstransporte des Reiches, um das ungeheure Grauen an einem Häuflein des Staatsvolkes mit Kugeln und Feuerbränden zu rächen. Die kleinen türkischen Besatzungen, die vor den Verteidigungsabschnitten lagerten, rasten den Berg hinunter. Kein Offizier konnte sie aufhalten. Was in dem Bann der Steineichenschlucht noch lebte, hatte sich, der Kugeln nicht mehr achthabend, durchs Dickicht geschlagen und den Vorberg erreicht. Die Armeniersöhne waren nicht stark genug, den Eingang der Schlucht völlig abzuriegeln. Einige ehrenwerte tapfere Offiziere und Soldaten, die ihren Jüsbaschi vermißten, hatten sich noch einmal zurückgewagt und den Verwundeten, der bewußtlos am Waldrand lag, geborgen und knapp vor der Gefangennahme gerettet. Sie trugen ihn in die Villa Bagradian, das Hauptquartier. Während dieses schmerzhaften Weges erwachte der Major. Einige schwere Atemzüge. Er wußte, daß alles verloren war, daß die Christen seine Heeresmacht vollständig aufgerieben hatten, daß es für ihn keine Rehabilitierung und Rückkehr gab. Aufrichtig fluchte er dem Geschoß, das nur seinen rechten Arm zerschmettert und keine gründlichere Arbeit geleistet hatte. Er wünschte sich eines nur, wieder bewußtlos zu werden. Dieser Wunsch aber blieb ihm nicht nur versagt, sondern die klarste und kälteste Beurteilung des Geschehenen arbeitete in ihm unerbittlich.
Die Prozession des Feuers hatte keinen Feind mehr vor der Brust. Langsam näherten sich die brennenden Reihen der Steineichenschlucht und ihren Nachbarwäldern. Auf halber Höhe des Berges etwa ließ Ter Haigasun die langen Linien halten und gab den Befehl (der von einem Ende zum anderen lief), die lodernden Fackelstümpfe ins Unterholz zu werfen und eilig zurückzukehren. Die Flammenstöcke versanken im auf qualmenden Wildwuchs. Nach wenigen Minuten schon gab es allenthalben einen endlos fortknatternden Knall, als ob der ganze Damlajik explodieren wollte. An vielen Stellen schoß die Lohe des Waldbrands hoch. Wehe, wenn sich der Wind in den nächsten Stunden und Tagen wendete! Die Stadtmulde, die ja dem Bergrand zunächst lag, wäre den wehenden Funken und Feuerzungen ausgesetzt gewesen. Ein Glück, daß Gabriel Bagradian vor den Abschnitten ein ausgeholztes Glacis geschaffen hatte! Der Waldbrand breitete sich mit derartiger Geschwindigkeit, ja Gleichzeitigkeit über der sommertrockenen Brust des Damlajik aus, daß es nicht irdisches Feuer und irdischen Feuers Nahrung zu sein schien, was da in tobenden Flammen stand. Den Komitatschis und Zehnerschaften tiefer unten blieb kaum Zeit, die Beute des Überfalls sicherzustellen, mehr als zweihundert Mausergewehre, Munition in Hülle und Fülle, zwei Kochkisten, fünf Lastesel mit Proviant, Zeltbahnen, Decken, Laternen und reiches Material sonst.
Als die wirkliche Sonne aufging, lag über dem Damlajik ein steinerner Schlaf. Die Kämpfer schliefen, wo sie hingefallen waren. Die wenigsten nur hatten die Kraft gehabt, sich bis zu ihren Decken zu schleppen. Die Knaben schliefen in Knäueln auf der nackten Erde. In den Hütten der Stadtmulde hatten sich die Frauen auf die Matten hingeworfen, zerrauft und ungewaschen, wie sie waren, ohne sich um ihre kleinen Kinder zu kümmern, die hungrig greinten. Bagradian schlief, und die Führer schliefen alle. Selbst Ter Haigasun hatte nicht mehr die Kraft besessen, die Dankmesse zu vollenden. Gegen Schluß der heiligen Handlung war er, von unabwendbarer Erschöpfung überwältigt, wie ein Trunkener zusammengesunken. Die Muchtars schliefen, ohne unter den Schafherden das Schlachtvieh auszuwählen. Die Metzger schliefen und die Melkerinnen. Keiner ging an sein Tagewerk. Die Feuerstellen auf dem Küchenplatz wurden nicht angeheizt, Wasser wurde von den Quellen nicht zugetragen. Niemand sorgte für die vielen Verwundeten, die noch in den Stellungen schmachteten oder sich im Laufe der Stunden zum Lazarettschuppen geschleppt hatten. Was sich in dem kühlen Wort »Verwundeter« so bildlos summarisch ausnimmt, dort lag es im weiten Umkreis in seiner ganzen schauerlichen Wirklichkeit: Gesichter ohne Nasen und Augen, Kinnladen wie blutiger Brei, von Dumdumgeschossen zermörserte Leiber, ächzende Menschen mit Bauchschüssen, die vor Durst vergingen. Und all diesen Elenden konnte nicht Bedros Hekim, sondern nur der Tod helfen. Doch ehe er sich über diesen oder jenen gnädig beugte, half auch ihnen eine narkotische Fieberbenommenheit über die langsamen Stunden hinweg.
Im Tal unten schliefen die Kompaniesoldaten, die Saptiehs, die Tschettehs, soweit sie dem Gemetzel entkommen waren. Die Offiziere der Truppen schliefen in den Zimmern der Villa Bagradian. Das erste Opfer des gestrigen Tages, den Kolagasi aus Aleppo, hatte man vor vielen Stunden schon mit einem Sanitätswagen nach Antakje gebracht. Jetzt schlief ein neuer Verwundeter, der Jüsbaschi, in Stephans Bett. Auch den Kaimakam in Juliettens Zimmer hatte der Schlaf niedergeworfen. Er war mit einem Bericht an den Wali von Aleppo beschäftigt gewesen, als er sich nicht länger mehr aufrecht halten konnte. Hinter der Blende dieses Schlafes jedoch arbeitete sein Bewußtsein und sein Gewissen mit nackterer Grausamkeit weiter als in dem eitlen Faltenwurf des Wachseins. Er hatte soeben den schwersten Mißerfolg seiner Laufbahn erlebt. In jedem Mißerfolg aber liegt ein Element der Gnade, weil er die ganze Lächerlichkeit menschlicher Wert-Anmaßungen grinsend entlarvt. Der Kaimakam, hoher Beamter, angesehenes Ittihad-Mitglied, hochmütiger Erz-Osmane, von der Überlegenheit seiner Wehr- und Herrenrasse restlos durchdrungen, was hatte er erfahren müssen? Die Schwachen waren die Starken, und die Starken waren in Wahrheit ohne Wert; ja sie waren wertlos selbst in jenen heroischen Belangen, derentwegen sie die Schwachen verachteten. Die Schlaferkenntnisse des Kaimakams aber reichten noch tiefer. Bisher hatte er nicht ein einziges Mal daran gezweifelt, daß sich Enver und Talaat im vollen Recht befanden, ja mehr noch, daß sie der armenischen Millet gegenüber als geniale Staatsmänner handelten. Nun aber stieg ein wütender Zweifel an Enver Pascha und Talaat Bey im Bewußtsein des Kaimakams auf, denn der Mißerfolg ist auch der strengste Vater der Wahrheit. Hatten Menschen das Recht, einen weisen Plan auszuarbeiten, mittels dessen ein andres Volk ausgerottet werden sollte? Gab es überhaupt einen zureichenden Nützlichkeitsgrund für einen solchen Plan, wie der Kaimakam hundertmal behauptet hatte? Wer entscheidet, ob ein Volk besser oder schlechter sei als das andre? Menschen können das gewiß nicht entscheiden. Und Gott hatte heute auf dem Damlajik eine sehr eindeutige Entscheidung gefällt. Der Kaimakam sah sich in gewissen Situationen, die ihn um seiner selbst willen nicht wenig rührten. Er schrieb an Seine Exzellenz, den Wali von Aleppo, ein Abschiedsgesuch und zerstörte freiwillig den ganzen Aufbau seines Lebens. Er bot den Armeniern in Person Gabriel Bagradians, der sich in einen Bademantel hüllte, Frieden und Freundschaft an. Er trat im Zentralausschuß von Ittihad für sofortige Rückbeförderung der armenischen Transporte ein und setzte eine allgemeine Steuer durch, um das Unrecht gutzumachen. Auf dieser ethischen Höhe jedoch vermochte sich seine Seele nur während des tiefsten Tiefschlafes zu halten. Je dünner die Substanz seines Schlafs wurde, je mehr sich sein Zustand dem Taggewissen näherte, um so verschlagener wichen seine Gedanken solch kühnen Entschlüssen aus. Zuletzt hatten sie in geglättetem Schlummer einen recht gängigen Ausweg ersonnen: Es war völlig überflüssig, schuldbewußte Rapporte an die Zentralbehörden loszulassen. Der Kaimakam schlief bis Mittag.
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