Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
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Читать онлайн книгу Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter Benjamin страница 173

СКАЧАТЬ konnte es deutlich hören, wie die Unseligen sie baten und beschworen, doch die alte Frau schien nicht zulassen zu wollen, daß noch jemand außer ihr selber selig werden sollte. Sie befreite sich von einem nach dem anderen und ließ sie alle in ihr Elend hinabtaumeln. Wehklagen und Verwünschungen erfüllten während ihres Sturzes den weiten Raum.

      Da rief Sankt Peter seine Mutter an und beschwor sie, sich barmherzig zu erweisen, sie aber wollte nichts davon hören und tat wie zuvor.

      Und Sankt Peter sah, wie der Engel immer langsamer emporschwebte, je leichter seine Last wurde. Und Sankt Peter erschrak so heftig, daß seine Knie schlotterten, und plötzlich sank er zu Boden.

      Schließlich war nur eine einzige Unselige übrig geblieben, die sich an Sankt Peters Mutter angeklammert hatte. Es war ein junges Weib, das an ihrem Halse hing und dicht an ihrem Ohr bat und flehte, sie möchte ihr doch erlauben, ihr ins gesegnete Paradies zu folgen.

      Der Engel war indessen mit seiner Last so weit gekommen, daß Sankt Peter schon seine Arme ausstreckte, um seine Mutter in Empfang zu nehmen. Er meinte, daß der Engel nur noch ein paar Flügelschläge zu machen brauche, um oben auf dem Berge anzulangen.

      Aber plötzlich ließ der Engel seine Schwingen gänzlich ruhen, und sein Antlitz wurde dunkel wie die Nacht.

      Denn eben hatte die alte Frau ihre Hände rücklings ausgestreckt und die Arme der Unglücklichen fest angepackt, die an ihrem Halse hing. So lange riß und zerrte sie, bis es ihr gelang, die ineinander gefalteten Hände zu lösen, so daß sie auch von dieser befreit war.

      Als die Unselige hinabzustürzen begann, sank der Engel mehrere Klafter tief hinunter, und es hatte den Anschein, als vermöge er nicht mehr die Schwingen zu erheben. Er blickte voll Trauer auf die alte Frau nieder, sein Arm löste sich von ihrem Leib, und er ließ sie fallen, als sei sie jetzt, da er sie allein trug, eine zu schwere Last für ihn geworden.

      Dann schwang er sich mit einem einzigen Flügelschlage zum Paradiese empor.

      Aber Sankt Peter blieb lange Zeit auf derselben Stelle liegen und weinte bitterlich, und unser Heiland stand schweigend neben ihm. Schließlich sprach er: »Sankt Peter, ich hätte niemals geglaubt, daß Du so weinen würdest, nachdem Du ins Paradies gekommen bist.«

      Da hob Gottes alter Diener sein Haupt und entgegnete: »Was ist das für ein Paradies, in dem ich meiner Nächsten Wehklagen höre und meiner Mitmenschen Leiden sehe!«

      Und des Heilands Antlitz verdüsterte sich in tiefster Trauer. »Was wollte ich lieber, als Euch allen ein Paradies reinen, strahlenden Glückes zu bereiten?« sprach er. »Begreifst Du nicht, daß ich nur um dessentwillen zu den Menschen hinabstieg und sie lehrte, ihren Nächsten zu lieben wie sich selber? Denn solange sie das nicht tun, gibt es weder im Himmel noch auf Erden eine Freistatt, wo Schmerz und Trübsal sie nicht erreichen können.«

      Die Lichtflamme

       Inhaltsverzeichnis

      1

       Inhaltsverzeichnis

      Vor vielen Jahren, als die Stadt Florenz sich eben zur Republik gemacht hatte, lebte dort ein Mann, des Namens Raniero di Ranieri. Er war der Sohn eines Waffenschmieds und hatte seines Vaters Handwerk erlernt, es lag ihm aber nicht viel an dessen Ausübung.

      Dieser Raniero war ein sehr starker Mann. Es hieß von ihm, daß er eine schwere Eisenrüstung ebenso leicht trage wie ein anderer ein Seidenhemd. Er war noch jung, hatte aber bereits viele Kraftproben bestanden. Einmal befand er sich in einem Hause, auf dessen Dachboden Korn lagerte. Man hatte aber dort oben zu viel aufgehäuft, und während Ranieros Anwesenheit brach einer der Dachbalken, und das ganze Dach drohte einzustürzen. Alle, außer Raniero, waren entflohen. Er aber hatte die Arme emporgestreckt und sie gegen die Decke gestemmt, bis die Leute Balken und Pfähle herbeigeholt hatten, um das Dach zu stützen.

      Man sagte auch von Raniero, daß er der tapferste Mann sei, den es jemals in Florenz gegeben hatte, und daß er von Kampf und Streit niemals genug bekommen konnte. Sobald er irgendeinen Lärm von der Straße her vernahm, stürzte er aus seiner Werkstatt hervor, in der Hoffnung, daß eine Schlägerei entstanden sei, an der er sich beteiligen könnte. Wenn er nur blank ziehen durfte, kämpfte er ebenso gern mit einfachen Bauern wie mit eisengepanzerten Rittern. Gleich einem Rufenden stürzte er sich in den Kampf, ohne seine Angreifer zu zählen.

      Nun war Florenz zu damaliger Zeit nicht besonders mächtig. Die Bevölkerung bestand meistenteils aus Wollspinnern und Tuchwebern, und diese wünschten sich nichts Besseres, als in Frieden ihr Handwerk zu treiben. Wohl gab es genug tüchtige Männer, aber sie waren nicht streitlustig, sondern setzten eine Ehre darein, daß in ihrer Vaterstadt größere Ordnung herrschen sollte als irgendwo anders. Oft genug bedauerte Raniero, nicht in einem Lande geboren zu fein, wo es einen König gab, der tapfere Männer um sich versammelte, und er sagte, daß er in solchem Falle zu hohen Ehren und Würden gelangt wäre.

      Raniero war prahlerisch und laut, grausam gegen Tiere, hart gegen sein Weib, und es ließ sich überhaupt nicht gut mit ihm leben. Er wäre ein schöner Mann gewesen, wenn sich nicht mehrere tiefe Narben, die ihn entstellten, quer über sein Gesicht gezogen hätten. Er war rasch von Entschlüssen, und seine Handlungsweise war großzügig, obwohl oft sehr gewalttätig.

      Raniero war mit Francesca verheiratet, der Tochter des klugen und mächtigen Jacopo degli Uberti. Dem war durchaus nicht recht gewesen, seine Tochter einem solchen Kampfhahn wie Raniero zum Weibe zu geben, und er hatte sich dieser Heirat so lange wie möglich widersetzt. Doch Francesca hatte ihn dadurch zur Nachgiebigkeit bestimmt, daß sie erklärte, niemals einen anderen heiraten zu wollen. Als Jacopo endlich seine Einwilligung gab, hatte er zu Raniero gesagt: »Ich glaube oft erfahren zu haben, daß Männer Deines Schlages die Liebe eines Weibes leichter zu erringen als zu erhalten wissen, darum will ich Dir ein Versprechen abnehmen. Wenn meine Tochter das Zusammenleben mit Dir zu schwierig fände, so darfst Du sie nicht zurückhalten, falls sie zu mir zurückkehren will.« Francesca meinte, ein solches Versprechen sei ganz überflüssig, denn sie liebe Raniero so innig, daß nichts sie von ihm zu scheiden vermöchte. Aber Raniero gab das Versprechen sogleich und sagte: »Du kannst gewiß sein, daß ich niemals den Versuch machen würde, ein Weib zurückzuhalten, das von mir gehen mag.«

      Nun vereinigte Francesca sich mit Raniero, und sie kamen gut miteinander aus.

      Nachdem sie einige Wochen verheiratet waren, fiel es Raniero ein, sich im Scheibenschießen zu üben. Einige Tage schoß er nach einer an der Mauer hängenden Tafel. Er wurde sehr geschickt und verfehlte niemals das Ziel. Schließlich bekam er Lust, nach einem schwereren Ziel zu schießen. Er schaute sich nach etwas Angemessenem um, entdeckte aber nichts außer einer Wachtel, die in einem Vogelbauer über der Hoftür saß. Der Vogel gehörte Francesca, und sie hing sehr an ihm. Dennoch ließ er das Vogelbauer durch einen Burschen öffnen und erschoß die Wachtel, als sie sich in die Luft schwang.

      Er fand diesen Schuß wohlgelungen und rühmte sich seiner vor jedem, der ihn anhören mochte.

      Als Francesca erfuhr, daß er ihren Vogel erschossen hatte, wurde sie bleich und blickte ihn mit großen Augen an. Sie war verwundert darüber, daß er etwas hatte tun mögen, was ihr Kummer bereiten mußte. Aber sie verzieh ihm bald und liebte ihn wie zuvor.

      Eine Zeitlang ging alles wieder gut.

      Ranieros СКАЧАТЬ