Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
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Читать онлайн книгу Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter Benjamin страница 172

СКАЧАТЬ »Du leidest, weil Deine Mutter nicht hierher ins Paradies gekommen ist.«

      »So ist es,« antwortete Sankt Peter, und sein Seelenleid war so übermächtig, daß er zu schluchzen und zu wehklagen begann. »Ich glaubte allerdings, daß ich es wohl verdient hätte, sie herzubekommen,« sagte er.

      Als unser Heiland aber den Grund von Sankt Peters Trauer erfahren hatte, wurde er seinerseits traurig. Denn Sankt Peters Mutter war nicht so gewesen, daß sie ins Himmelreich hätte kommen können. Sie hatte immer nur daran gedacht, Geld zusammen zu scharren, und den Armen, die vor ihrer Tür gestanden hatten, gab sie niemals soviel wie einen Heller oder auch nur einen Bissen Brot. Dennoch begriff unser Heiland sehr wohl, daß Sankt Peter es nicht zu fassen vermochte, wie groß der Geiz seiner Mutter gewesen war, und daß sie dadurch die ewige Seligkeit nicht erlangen konnte.

      »Sankt Peter, wie kannst Du es sicher wissen, daß es Deiner Mutter bei uns gefallen würde?« fragte er.

      »Sieh, so redest Du nur, um meine Bitte nicht erhören zu müssen,« erwiderte Sankt Peter. »Wem sollte es im Paradiese nicht gefallen?«

      »Wer nicht Freude über die Freude anderer empfindet, der kann sich hier nicht wohl fühlen,« antwortete unser Heiland.

      »Dann sind noch andere als meine Mutter hier, die nicht hineinpassen,« sagte Sankt Peter, und unser Heiland verstand, daß er ihn damit meinte.

      Da war er tief bekümmert, denn er erkannte, daß Sankt Peter in seinem tiefen Kummer gar nicht mehr wußte, was er sagte. Er wartete noch eine Zeitlang, weil er hoffte, daß Sankt Peter seine Worte bereuen und einsehen würde, daß seine Mutter nicht ins Paradies hineingehöre, aber Sankt Peter wollte nicht in sich gehen.

      Da rief unser Heiland einen Engel herbei und gebot ihm zur Hölle hinunterzufahren, um Sankt Peters Mutter zum Paradiese herauszubringen.

      »Laß mich dann auch zusehen, wie er sie heraufholt,« bat Sankt Peter.

      Und unser Heiland faßte ihn bei der Hand und führte ihn hinaus auf einen Felsen, der auf einer Seite ganz steil und abschüssig war. Und er zeigte ihm, daß er sich nur ein wenig über den Rand zu beugen brauchte, um gerade in die Hölle hinunter blicken zu können. Anfangs vermochte Sankt Peter nicht mehr zu unterscheiden, als wenn er in einen Brunnen hinabgeschaut hätte. Es war, als hätte sich unter ihm eine unendliche Schlucht aufgetan.

      Das erste, was er mit Mühe erkannte, war der Engel, der sich schon auf dem Wege nach dem Abgrund befand. Sankt Peter sah, wie der Engel in die finsterste Tiefe hinabeilte und nur seine Schwingen ein wenig ausbreitete, um nicht zu plötzlich hinabzusinken.

      Aber als Sankt Peters Augen sich ein wenig an das Dunkel gewöhnt hatten, begann er immer mehr und mehr zu erkennen. Vor allem sah er, daß das Paradies auf einem ringförmigen Berge lag, der eine weite Schlucht in sich barg, und daß auf ihrem Grunde die Verdammten ihre Stätte hatten. Er sah, wie der Engel eine ganze Weile lang sank und sank, ohne die Tiefe zu erreichen. Petrus war entsetzt darüber, daß es dorthin so weit war.

      »Wenn er nur mit meiner Mutter wieder heraufgelangen möchte!« sagte er.

      Unser Heiland blickte ihn nur mit großen, traurigen Augen an und sprach: »Es gibt keine noch so schwere Last, die mein Engel nicht zu heben und zu tragen vermöchte.«

      Der Abgrund war so tief, daß kein Sonnenstrahl hineindringen konnte, nur schwarzes Dunkel herrschte dort. Aber es schien, als habe der Engel in seinem Fluge ein wenig Klarheit und Helligkeit mitgebracht, so daß es Sankt Peter gelang Zu erkennen, wie es dort unten aussah. Er sah eine unendliche, schwarze Felsenwildnis. Scharfes, spitzes Felsgestein bedeckte den ganzen Grund, und zwischen dem Gestein blickten schwarze Wasserlachen. Kein grüner Halm, kein Baum, kein Zeichen des Lebens war weit und breit zu entdecken.

      Aber überall waren die unseligen Toten auf die scharfen Felsspitzen hinaufgeklettert. Sie hingen an dem Gestein, das sie in der Hoffnung erklettert hatten, sich aus der Schlucht emporzuschwingen, und da sie erkannt hatten, daß sie nirgendwohin gelangen konnten, waren sie vor Verzweiflung wie versteinert dort oben geblieben.

      Sankt Peter sah einige von ihnen sitzen, andere liegen, die Arme in unablässiger Sehnsucht ausgestreckt und die Augen nach oben gerichtet. Manche hatten ihr Gesicht mit den Händen bedeckt, als wollten sie dadurch das hoffnungslose Grausen ringsumher von sich absondern. Sie alle lagen regungslos, da war keiner, der es über sich gewann, irgend eine Bewegung zu machen. Einige lagen ganz still in den Wasserlachen und versuchten nicht einmal, sich daraus zu befreien.

      Das allerschrecklichste war jedoch, daß es eine solche Menge von Unseligen gab. Es war, als sei der ganze Grund der Schlucht nur aus Leibern und Köpfen gebildet.

      Und Sankt Peter ward von neuer Besorgnis erfaßt: »Du wirst sehen, daß er sie nicht findet,« sagte er zu unserem Heiland.

      Jesus blickte ihn ebenso traurig an wie zuvor. Er wußte ganz genau, daß Sankt Peter sich des Engels wegen nicht zu beunruhigen brauchte.

      Aber Sankt Peter hatte noch immer den Eindruck, daß der Engel inmitten der großen Menge dieser Unseligen seine Mutter nicht zu finden vermöchte. Er sah, wie der Engel mit ausgebreiteten Schwingen über dem Abgrund hin und her schwebte, um sie zu suchen.

      Plötzlich erblickte einer der armen Unseligen den Engel. Er sprang auf, streckte ihm die Arme entgegen und rief: »Nimm mich mit, nimm mich mit!«

      Da kam auf einmal Leben in die ganze große Menge. Alle die Millionen und Millionen, die dort unten in der Hölle verschmachteten, stürmten in demselben Augenblick heran, erhoben ihre Arme und riefen dem Engel zu, er solle sie doch nach dem seligen Paradiese mitnehmen.

      Auch unser Heiland und Sankt Peter vernahmen oben diese Schreie, und ihre Herzen erbebten vor Leid und Betrübnis.

      Der Engel schwebte hoch über den Verdammten, flog aber hin und her, um die Gesuchte herauszufinden, während alle ihm nachstürmten, als habe sie ein Wirbelwind zusammengefegt.

      Endlich erblickte der Engel jenes Weib, das er holen sollte. Er faltete seine Schwingen auf dem Rücken zusammen und fuhr hinab wie der Blitz. Und Sankt Peter stieß einen Ruf froher Ueberraschung aus, als er sah, wie der Engel seinen Arm um die Mutter schlang und sie emporhob. Und er rief alsbald:

      »Selig seist Du, der mir meine Mutter zuführt!«

      Unser Heiland legte seine Hand sanft auf Sankt Peters Schulter, als wollte er ihn warnen, sich zu früh der Freude hinzugeben.

      Doch Sankt Peter war nahe daran, vor Freude über die Rettung seiner Mutter zu weinen. Er konnte nicht begreifen, daß noch irgend etwas sie zu trennen vermöchte. Und seine Freude wurde noch größer, als er bemerkte, daß es trotz der Behendigkeit des Engels, der sogleich mit Petrus’ Mutter emporschwebte, einigen Verdammten dennoch geglückt war, sich fest an sie zu klammern, die nun erlöst werden sollte, weil jene hofften, dadurch zugleich mit ihr ins Paradies gebracht zu werden.

      Es war gewiß ein Dutzend Menschen, die sich an die alte Frau gehängt hatten, und Sankt Peter dachte, daß es für seine Mutter doch eine große Ehre sei, so viele Unglückliche von der Verdammnis Zu befreien.

      Der Engel hinderte sie auch durchaus nicht daran. Die große Last schien ihn nicht im geringsten zu beschweren, sondern er schwebte immer höher und höher empor, und seine Schwingen bedurften nicht größerer Anstrengung, als trüge er ein totes Vögelein zum Himmel. Doch nun gewahrte Sankt Peter, daß seine Mutter sich von den Unseligen zu befreien begann, die fest an ihr hingen. Sie griff nach deren Händen und löste ihren festen Griff, so daß СКАЧАТЬ