Название: Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe)
Автор: Walter Benjamin
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9788027223077
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»Wo ist denn meine kleine, stille Maus die ganze Zeit über gewesen?« fragte der Alte. »Sie war so lange, lange fort! Ich sehe jetzt wohl, daß es ohne die stille Maus nicht geht. Ich – wo ist mein Sohn William? – ich glaube, ich habe geträumt, William.«
»Ich sag's immer, Vater!« entgegnete sein Sohn. »Ich für meinen Teil habe einen häßlichen Traum gehabt. Wie fühlst du dich, Vater? Fühlst du dich wohl?«
»Frisch und munter, mein Sohn!« gab der Alte zur Antwort.
Es war eine ordentliche Freude, zu sehen, wie Mr. William seinem Vater die Hand schüttelte, ihm auf den Rücken klopfte und ihn leise streichelte, als ob er gar nicht genug Fürsorge für ihn an den Tag legen könne.
»Was für ein wundervoller Mensch du bist, Vater! Wie fühlst du dich, Vater? Fühlst du dich auch wirklich recht wohl?« fragte William und schüttelte ihm wieder die Hand, klopfte ihm auf den Rücken und streichelte ihn sanft.
»Ich war im Leben nicht frischer und kräftiger, mein Sohn!«
»Was du für ein wundervoller Mensch bist, Vater! Ich sag's immer«, sagte Mr. William begeistert. »Wenn ich bedenke, was mein Vater alles durchgemacht hat, die vielen Sorgen und Wechselfälle, all das Leid und der Gram, die ihm im Lauf seines langen Lebens zugestoßen sind und sein Haar gebleicht haben, ist mir, als wenn wir nicht genug tun könnten, um den alten Herrn zu ehren und sein Alter leicht zu machen. Wie fühlst du dich, Vater? Wirklich frisch und munter?«
Mr. William würde wohl nie aufgehört haben, diese Frage an ihn zu richten, ihm wieder die Hand zu schütteln, ihn wieder auf den Rücken zu klopfen und leise zu streicheln, hätte der Alte nicht jetzt den Chemiker erblickt.
»Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Redlaw«, sagte er, »aber ich wußte nicht, daß Sie hier sind, sonst würde ich mich nicht so haben gehenlassen. Wie ich Sie so hier sehe am Weihnachtsmorgen, fällt mir die Zeit ein, als Sie selbst noch Student waren und so fleißig arbeiteten, daß Sie sogar in der Christwoche nicht aus unserer Bibliothek herauskamen. Ha, ha! Ich bin alt genug, um mich daran zu erinnern, und weiß es noch ganz genau, obgleich ich siebenundachtzig bin. Nachdem Sie von hier fortgingen, starb meine arme Frau. Sie erinnern sich doch noch an meine Frau, Mr. Redlaw?«
»Ja«, antwortete der Chemiker.
»Ja«, sagte der alte Mann. »Sie war ein liebes Geschöpf. Ich erinnere mich, Sie kamen eines Weihnachtsmorgens her mit einer jungen Dame, ich bitte um Entschuldigung, Mr. Redlaw, aber ich glaube, es war Ihre Schwester, an der Sie so sehr hingen.«
Der Chemiker sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Ich hatte eine Schwester«, sagte er tonlos.
Weiter wußte er nichts.
»An einem Weihnachtsmorgen«, fuhr der Alte fort, »kamen Sie mit ihr hier vorbei, und es fing an zu schneien, und meine Frau lud die junge Dame ein, hereinzukommen und sich an das Feuer zu setzen, das am Weihnachtstage immer in dem Zimmer brennt, wo wir unsern großen Speisesaal hatten, bevor unsere zehn armen Herrn den Tausch eingingen. Ich war dort, ich erinnere mich noch; ich schürte die Glut, damit die junge Dame ihre hübschen Füßchen daran wärmen könnte, und sie las die Schrift unter dem Bilde: Der Herr erhalte mein Gedächtnis jung! Sie und meine selige Frau fingen an, darüber zu plaudern; und es ist so seltsam, wenn man jetzt denkt, daß beide sagten – und beide waren so jung, daß ans Sterben nicht zu denken war –, es sei ein schönes Gebet und sie würden es inbrünstig beten, falls sie früher sterben sollten, für die, die sie am liebsten hätten. Mein Bruder, sagte die junge Frau; – mein Gatte, sagte meine arme Frau –: Der Herr erhalte dein Gedächtnis jung und lasse dich niemals meiner vergessen.«
Schmerzlichere und heißere Tränen, als er jemals in seinem Leben geweint, rannen über Redlaws Gesicht. Philipp, zu sehr mit seiner Geschichte beschäftigt, hatte es nicht bemerkt und Millys warnende Gebärden nicht verstanden.
»Philipp«, sagte Redlaw und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich bin ein Unglücklicher, auf dem schwer die Hand der Vorsehung lastet. Du sprichst von etwas, Freund, das ich nicht mehr begreifen kann. Meine Erinnerung ist fort.«
»Barmherziger Himmel!« schrie der alte Mann.
»Ich habe die Erinnerung an Kummer und Sorge verloren«, sagte der Chemiker, »und damit auch alles, was dem Menschen der Erinnerung wert ist.«
Wer des alten Philipp Mitleid sah, und sah, wie er den eigenen großen Stuhl heranrollte, damit sich Redlaw darin ausruhen sollte, und das tiefe Verständnis in seinen Augen las für den Verlust, den jener erlitten, der mußte erkennen, wie kostbar die Erinnerungen für das Alter sind.
Der Knabe kam hereingelaufen und eilte auf Milly zu.
»Hier ist der Mann«, sagte er, »im andern Zimmer. Ich mag ihn nicht.«
»Wen meint er?« fragte Mr. William.
»Still!« sagte Milly.
Auf ihren Wink gingen er und sein Vater leise hinaus. Als sie verschwunden waren, winkte Redlaw den Knaben zu sich.
»Ich will lieber bei der Frau sein«, antwortete dieser und klammerte sich an Millys Röcke an.
»Du hast ganz recht«, sagte Redlaw mit einem trüben Lächeln, »aber du brauchst dich vor mir nicht zu fürchten, ich bin sanfter, als ich war, vor allem gegen dich, armes Kind.«
Der Junge hielt sich anfangs noch scheu zurück, aber allmählich gab er Millys Drängen nach, wagte sich näher und setzte sich dem Gelehrten sogar zu Füßen. Redlaw legte seine Hand auf die Schulter des Jungen, blickte mit brüderlicher Teilnahme auf ihn herab, und das Kind reichte die seine seiner Beschützerin hin. Milly beugte sich herab, daß sie ihm ins Gesicht sehen konnte, und fragte nach einer Pause:
»Mr. Redlaw, darf ich Ihnen etwas sagen?«
»Ja«, antwortete der Chemiker und blickte sie an. »Ihre Stimme ist wie Musik für mich.«
»Darf ich Sie etwas fragen?«
»Was Sie wollen.«
»Erinnern Sie sich noch, von wem ich gestern abend sprach, als ich an Ihre Türe klopfte? Von jemand, der einst Ihr Freund gewesen ist und jetzt am Rande des Verderbens steht?«
»Ja, ich kann mich erinnern«, sagte er zögernd.
»Wissen Sie, was ich meinte?«
Er streichelte den Kopf des Kindes, sah sie eine Welle gespannt an – und schüttelte den Kopf.
»Diesen Mann«, sagte Milly mit ihrer sanften, klaren Stimme, die der Blick ihrer milden Augen noch klarer und weicher machte, »fand ich bald darauf. Ich ging nach Hause zurück und machte ihn ausfindig mit Gottes Hilfe. Ich kam gerade noch zurecht. Ein wenig später, und es wäre vorüber gewesen.«
Redlaw zog seine Hand von dem Kinde zurück, legte sie auf die ihre, und die schüchterne und doch innige Berührung drang ihm ins Herz, wie ihre Stimme und ihre Augen, und er sah sie gespannt an.
»Er ist der Vater des Mr. Edmund, des jungen Herrn, den wir vorhin getroffen haben. Sein wirklicher Name ist Langford. Erinnern Sie sich an den Namen?«
»Ich erinnere mich СКАЧАТЬ