Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
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Читать онлайн книгу Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter Benjamin страница 137

СКАЧАТЬ das ist aber noch nicht alles«, sagte Milly. »Als wir in das Zimmer hinaufkamen, richtete sich der Kranke, der stundenlang in Lethargie gelegen, auf, brach in Tränen aus, streckte mir die Arme entgegen und sagte, er habe ein liederliches Leben geführt, aber jetzt bereue er aufrichtig in seinem Kummer um der Vergangenheit willen, die so klar wie eine große Landschaft, von der eine dicke, schwarze Wolke genommen worden, vor ihm läge, und er ersuchte mich, seinen armen, alten Vater um Verzeihung und um seinen Segen zu bitten, und ich möchte an seinem Bett ein Gebet sprechen. Und als ich dies tat, stimmte Mr. Redlaw so inbrünstig ein und dankte mir so heiß, daß mein Herz ganz überströmte und ich nur schluchzen und weinen konnte, bis mich der Kranke bat, ich möchte mich ihm zur Seite setzen. Da wurde ich ruhiger. Dann hielt er meine Hand fest und verfiel in einen leichten Schlummer, und selbst als ich sie wegzog, um hierher zu gehen, denn Mr. Redlaw drang so darauf, da griff er wieder nach ihr, so daß sich jemand anders an meine Stelle setzen und ihm die Hand halten mußte, damit er glaubte, ich wäre noch da. O Gott, o Gott«, sagte Milly schluchzend, »wie dankbar und glücklich ich bin über all das!«

      Während sie noch sprach, war Redlaw eingetreten, hatte einen Augenblick die Gruppe betrachtet und ging stillschweigend die Treppe hinauf. Auf der obersten Stufe erschien er jetzt wieder und blieb stehen, während der junge Student an ihm vorüber- und heruntereilte.

      »Meine gütige Pflegerin, sanftestes, bestes aller Wesen!« rief der junge Mann aus und fiel in die Knie vor ihr und ergriff ihre Hand. »Verzeihen Sie mir meine Undankbarkeit.«

      »Du mein Gott!« rief Milly in naivem Erstaunen. »Da ist ja noch einer, da ist ja wieder jemand, der mich gern hat. Was soll ich nur anfangen?« Die unschuldige, einfache Art, mit der sie das sagte und die Hände auf die Augen legte und vor Freude weinte, war ebenso rührend wie entzückend.

      »Ich war nicht Herr meiner selbst, ich weiß nicht, was es war, vielleicht eine Folge meiner Krankheit; ich war verrückt. Aber jetzt ist es vorbei. Fast noch während ich rede, fühle ich mich gesund werden. Ich hörte die Kinder Ihren Namen rufen, und bei seinem Klang schon wich der Schatten von mir. O weinen Sie nicht, liebe Milly, wenn Sie in meinem Herzen lesen könnten, wie es überfließt vor dankbarer Liebe, würden Sie mich Ihre Tränen nicht sehen lassen. Es liegt für mich ein tiefer Vorwurf in ihnen!«

      »Nein, nein«, sagte Milly, »das ist es nicht, das ist es wirklich nicht! Freude ist's! Es ist Erstaunen, daß Sie glauben, mich wegen einer solchen Kleinigkeit um Verzeihung bitten zu müssen, und doch ist's Freude darüber, daß Sie es tun.«

      »Und werden Sie auch wiederkommen und den kleinen Vorhang fertig machen?«

      »Nein!« sagte Milly, schüttelte den Kopf und trocknete ihre Tränen. »Jetzt wird Ihnen meine Näherei gleichgültig sein.«

      »Nennt man das vergessen?«

      Sie winkte ihn beiseite und flüsterte ihm ins Ohr: »Es ist Nachricht von zu Hause da, Mr. Edmund!«

      »Nachricht, wieso?«

      »Entweder das Ausbleiben Ihrer Briefe, als Sie krank lagen, oder Ihre veränderte Handschrift dann später, als es Ihnen wieder besser ging, hat Ihre Familie gewiß vermuten lassen, wie die Sachen stehen. Jedenfalls können Ihnen Nachrichten nur lieb sein, wenn es nur keine schlechten Nachrichten sind.«

      »Sicherlich!«

      »Es ist jemand angekommen!« fuhr Milly fort.

      »Meine Mutter?« fragte der Student und sah sich unwillkürlich nach Redlaw um, der die Treppe herabkam.

      »O nein!« sagte Milly.

      »Es kann aber niemand anders sein.«

      »Wirklich nicht?« sagte Milly. »Wissen Sie das gewiß?«

      »Es ist doch nicht –« Ehe er ausreden konnte, legte sie ihm die Hand auf den Mund.

      »Ja, sie ist's, die junge Dame. Sie sieht dem Miniaturbilde sehr ähnlich, Mr. Edmund, ist aber noch viel hübscher. Sie war so beunruhigt durch die ewige Ungewißheit und ist gestern mit einem kleinen Dienstmädchen hergekommen. Da Sie Ihre Briefe stets aus dem Kollegium datierten, so ist sie dorthin gegangen, und ich traf sie dort, bevor ich heute früh zu Mr. Redlaw ging. Sie hat mich auch gern«, sagte Milly. »Du lieber Gott, noch jemand.«

      »Diesen Morgen? Wo ist sie jetzt?«

      »Jetzt«, flüsterte ihm Milly ins Ohr, »ist sie in meinem kleinen Zimmer im Pförtnerhaus und erwartet Sie dort.«

      Er drückte ihr die Hand und wollte davoneilen, aber sie hielt ihn zurück.

      »Mr. Redlaw ist ganz verändert und sagte mir heute morgen, sein Gedächtnis habe gelitten. Seien Sie rücksichtsvoll gegen ihn, Mr. Edmund. Er bedarf dessen von uns allen.«

      Der junge Mann gab ihr durch einen Blick die gewünschte Versicherung, und als er an dem Chemiker vorüberging, verbeugte er sich voller Achtung und sichtlicher Teilnahme.

      Redlaw erwiderte den Gruß höflich, fast demütig, und sah ihm nach. Dann stützte er den Kopf auf die Hand, als wolle er sich auf etwas, das ihm entschwunden war, besinnen, aber es kam nicht wieder. Die dauernde Veränderung, die in ihm vorgegangen war seit den Klängen der nächtlichen Weise und dem Wiedererscheinen des Gespenstes, äußerte sich darin, daß er jetzt wirklich fühlte, wieviel er verloren hatte, und traurig über seine eigene Lage sein konnte, wenn er sie mit dem natürlichen Zustand der Menschen in seiner Umgebung verglich. Dadurch wurde wieder ein Interesse an seiner Umgebung in ihm wach und etwas wie demütige Unterwerfung unter sein unglückliches Schicksal, wie es manchmal dem Alter eigen ist, wenn die geistigen Kräfte geschwächt sind, ohne daß Gleichgültigkeit und Verdrossenheit sich hinzugesellten.

      Er war sich bewußt, daß diese neue Veränderung immer mehr in ihm reifte, je mehr von dem Unheil, das er gestiftet, durch Millys Vermittlung wiedergutgemacht wurde. Deshalb und infolge der Zuneigung, die sie ihm einflößte, ohne jedoch weitere Hoffnungen daran zu knüpfen, fühlte er, daß er gänzlich von ihr abhing und daß sie die einzige Stütze war in seinem Herzeleid.

      Als sie ihn daher fragte, ob sie jetzt nach Hause gehen sollte zu ihrem Gatten und seinem alten Vater, und er freudig mit ja antwortete, denn auch ihm lag dies sehr auf dem Herzen, reichte er ihr seinen Arm und ging mit ihr, nicht als ob er der große Gelehrte wäre, dem die Wunder der Natur ein offenes Buch, und sie der ungeschulte Geist, sondern als ob dieses Verhältnis umgekehrt sei und sie alles wußte und er gar nichts.

      Er sah die Kinder sich um sie drängen und sie liebkosen, als sie jetzt das Haus verließen. Er hörte ihr helles Lachen und ihre lustigen Stimmen, er sah ihre freundlichen Gesichter, die ihn wie Blumen umgaben, er war Zeuge der wiederhergestellten Eintracht ihrer Eltern, er atmete die schlichte Luft des ärmlichen Häuschens, dem der Friede wiedergegeben war, und gedachte des tödlichen Pesthauchs, den er hier verbreitet hatte und auch jetzt, wäre sie nicht gewesen, weiter und weiter hätte verbreiten müssen. Und da war es kein Wunder, daß er demütig neben ihr herging und sie sanft an sich drückte.

      Als sie im Pförtnerhaus ankamen, saß der Alte in seinem Stuhl in der Kaminecke, die Augen auf den Boden geheftet, und sein Sohn lehnte an der andern Seite des Ofens und sah seinen Vater an. Als Milly in der Türe stand, fuhren beide auf und wandten sich nach ihr um, und eine leuchtende Veränderung vollzog sich auf ihren Gesichtern.

      »O Gott, Gott, Gott! Auch sie sehen mich wieder gern wie die andern!« rief Milly, klatschte freudig in die Hände und blieb stehen: »Wieder zwei mehr!«

      Froh, СКАЧАТЬ