Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
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Читать онлайн книгу Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter Benjamin страница 142

СКАЧАТЬ daß Jane aufgefordert werden sollte, den alten Cheeseman zu schneiden. Wenn sie sich aber weigerte, sollte sie selbst in Verruf gebracht werden. So wurde eine Deputation unter Führung des Präsidenten an Jane abgesandt, um ihr den Beschluß mitzuteilen, den der Bund zu seinem schmerzlichen Bedauern hätte fassen müssen. Sie war wegen ihrer vielen guten Eigenschaften sehr geachtet, und es gab eine Geschichte von ihr, daß sie einst dem Reverend in seinem eigenen Studierzimmer aufgelauert und aus ihrem guten Herzen heraus eine schwere Strafe von einem Jungen abgewendet hatte. So war der Deputation bei der Sache nicht besonders wohl zumute. Doch ging sie nach oben, und der Präsident teilte Jane alles mit. Diese bekam einen roten Kopf und brach in Tränen aus. Dann sagte sie dem Präsidenten und der Deputation in einer Art, die von ihrer sonstigen Weise ganz und gar abwich, sie wären eine Gesellschaft von boshaften jungen Wilden, und wies die ganze ehrenwerte Körperschaft aus dem Zimmer. Infolgedessen wurde in das Buch des Bundes (das aus Furcht vor Entdeckung in einer Geheimschrift geführt wurde) eingetragen, daß jeder Umgang mit Jane verboten wäre. Der Präsident aber richtete eine Ansprache an die Mitglieder, in der er sie auf dieses überzeugende Beispiel der Wühlarbeit des alten Cheeseman hinwies.

      Aber Jane war dem alten Cheeseman ebenso treu, wie der alte Cheeseman gegen unsere Jungen treulos war – wenigstens ihrer Meinung nach. So hielt sie standhaft zu ihm und blieb seine einzige Freundin. Das ärgerte die Mitglieder des Bundes sehr, denn Jane war für sie ein ebenso großer Verlust wie für ihn ein Gewinn. Sie waren erbitterter gegen ihn und behandelten ihn schlechter denn je. Schließlich war eines Morgens sein Pult verlassen, und als man in sein Zimmer blickte, war es leer. Da bekamen unsere Jungen blasse Gesichter und ein Flüstern ging unter ihnen, daß der alte Cheeseman, außerstande, es noch länger auszuhalten, früh aufgestanden wäre und sich ins Wasser gestürzt hätte.

      Die geheimnisvollen Mienen der übrigen Lehrer beim Frühstück und die Tatsache, daß der alte Cheeseman offenbar nicht erwartet wurde, bekräftigten den Bund in dieser Ansicht. Einige begannen zu disputieren, ob der Präsident den Galgen oder bloß lebenslängliche Deportation verwirkt hätte, und im Gesicht des Präsidenten war die angstvolle Frage zu lesen, welches von beiden es sein würde. Jedoch äußerte er sich, daß er einer Jury seines Vaterlandes mutig gegenübertreten würde. In seiner Ansprache an die Geschworenen würde er sie auffordern, die Hand aufs Herz zu legen und zu bekennen, ob sie als Briten mit Angeberei einverstanden wären und wie sie selbst etwas Derartiges aufgenommen haben würden. Einige Mitglieder des Bundes meinten, daß er lieber davonlaufen und in einem Wald mit einem Holzhauer die Kleider tauschen und sein Gesicht mit Heidelbeeren schwärzen sollte. Die Majorität aber glaubte, wenn er tapfer standhielte, dann könnte ihn sein Vater – da er doch in Westindien lebte und millionenreich war – loskaufen.

      Alle unsere Jungen hatten Herzklopfen, als der Reverend hereinkam und mit dem Lineal eine Art Römer oder Feldmarschall aus sich machte. Das tat er stets, bevor er eine Ansprache hielt. Aber ihre Furcht war nichts gegen ihr Erstaunen, als er mit der Geschichte herausrückte, daß der alte Cheeseman, »so lange unser geehrter Freund und Wandergenosse in den angenehmen Gefilden der Wissenschaft«, wie er ihn nannte – jawohl! da war viel davon zu spüren gewesen! –, das verwaiste :Kind einer enterbten jungen Dame war, die gegen ihres Vaters Willen geheiratet hatte und deren Gatte jung gestorben war und die selbst vor Kummer gestorben war und deren unglückliches Kind (eben der alte Cheeseman) auf Kosten eines Großvaters erzogen worden war, der es niemals sehen wollte, als Kind, als Knaben oder als Mann. Dieser Großvater war nun tot, und das geschieht ihm recht – das füge ich hinzu –, und sein großes Vermögen, über das es kein Testament gab, gehörte nun plötzlich und für immer dem alten Cheeseman! Der Reverend schloß eine Menge langweiliger Zitate mit der Mitteilung, daß unser so lange geehrter Freund und Wandergenosse in den angenehmen Gefilden der Wissenschaft heute in vierzehn Tagen »noch einmal unter uns weilen« würde. Er wolle dann noch einmal Abschied von uns nehmen. Mit diesen Worten blickte er unsere Jungen streng an und ging aus dem Zimmer.

      Das gab eine nette Verblüffung unter den Mitgliedern des Bundes. Viele wollten austreten, und viele andere versuchten nachzuweisen, daß sie niemals dazu gehört hätten. Jedoch setzte sich der Präsident aufs hohe Roß und sagte, daß sie zusammenstehen oder fallen müßten. Wenn ein Bruch im Bund entstehen sollte, so ginge der Weg dazu nur über seine Leiche. Damit glaubte er den Mitgliedern Mut einzuflößen, aber es nützte nichts. Er fügte noch hinzu, daß er sich ihre Lage überlegen und ihnen in einigen Tagen nach bestem Wissen und Gewissen raten wolle. Alle waren darauf begierig, denn er hatte schon allerhand von der Welt zu sehen bekommen, da sein Vater in Westindien lebte.

      Nach tagelangem eifrigem Nachdenken, während dessen er ganze Armeen auf seine Schreibtafel gezeichnet hatte, rief der Präsident unsere Jungen zusammen und setzte ihnen die ganze Sache auseinander. Wenn der alte Cheeseman an dem bestimmten Tage käme, meinte er, so würde seine erste Rache sicherlich sein, den Bund anzuzeigen und dafür zu sorgen, daß sie alle tüchtige Prügel bekämen. Er würde sich an den Qualen seiner Feinde weiden und sein Herz an den Schreien erfreuen, die der Schmerz ihnen erpressen würde. Dann aber würde er aller Wahrscheinlichkeit nach den Reverend angeblich zu einer freundschaftlichen Unterhaltung in ein Privatzimmer einladen – etwa das Sprechzimmer, wo die Eltern empfangen wurden und wo die beiden großen Globusse standen, die nie benutzt wurden – und ihm dann die vielen Betrügereien und Qualen, die er von ihm hatte erdulden müssen, vorwerfen. Am Schluß seiner Bemerkungen würde er einem im Korridor versteckten Preisboxer ein Zeichen geben. Dieser würde daraufhin erscheinen und den Reverend bearbeiten, bis er besinnungslos liegenbleiben würde. Dann würde der alte Cheeseman Jane ein Geschenk von etwa fünf bis zehn Pfund machen und in teuflischem Triumph das Haus verlassen.

      Der Präsident erklärte, daß er gegen den Teil dieser Anordnungen, der das Sprechzimmer oder Jane betraf, nichts einzuwenden hätte. Soweit aber der Bund in Frage käme, riete er zum Widerstand bis in den Tod. Zu diesem Zweck empfahl er, daß alle verfügbaren Pulte mit Steinen gefüllt werden sollten und daß das erste Wort einer Klage das Signal für jedes Mitglied sein sollte, dem alten Cheeseman einen an den Kopf zu schleudern. Der kühne Rat versetzte den Bund in bessere Stimmung und wurde einstimmig angenommen. Ein Pfahl, annähernd von der Größe des alten Cheeseman, wurde auf dem Spielplatz aufgepflanzt, und alle unsere Jungen übten sich daran, bis er ganz mit Abdrücken bedeckt war.

      Als der Tag kam und die Jungen aufgerufen wurden, setzte sich jeder zitternd auf seinen Platz. Es hatte viele Debatten darüber gegeben, wie der alte Cheeseman erscheinen würde. Die vorherrschende Ansicht war, daß er in einer Art Triumphwagen mit vier Pferden ankommen würde, vorn zwei Diener in Livree und der Preisboxer in Verkleidung hintendrauf. So saßen alle unsere Jungen da und lauschten auf das Rasseln von Wagenrädern. Aber es ließen sich keine Räder vernehmen, denn der alte Cheeseman kam schließlich zu Fuß und betrat ohne jede Vorbereitung die Schule. Er sah so ziemlich aus wie immer, nur daß er schwarz gekleidet war.

      »Gentlernen«, sagte der Reverend, ihn vorstellend, »unser so lange geehrter Freund und Wandergenosse in den angenehmen Gefilden der Wissenschaft wünscht ein paar Worte zu sprechen. Aufgepaßt, Gentlemen, alle!«

      Jeder Junge fuhr verstohlen mit der Hand in sein Pult und blickte auf den Präsidenten. Der Präsident war vollkommen bereit und zielte bereits mit seinen Augen nach dem alten Cheeseman.

      Was aber tat der alte Cheeseman? Ging er nicht an sein altes Pult und sah sich mit einem sonderbaren Lächeln in der Runde um, als hätte er eine Träne im Auge? Und dann begann er mit milder, zitternder Stimme: »Meine lieben Kameraden und alten Freunde!«

      Jeder Junge zog seine Hand aus dem Pult und der Präsident begann plötzlich zu weinen.

      »Meine lieben Kameraden und alten Freunde«, sagte der alte Cheeseman, »ihr habt von meinem Glück gehört. Ich habe so viele Jahre unter diesem Dach zugebracht – ich darf sagen, mein ganzes bisheriges Leben –, daß ich hoffe, ihr habt euch um meinetwillen darüber gefreut. Es könnte mich niemals glücklich machen, wenn ihr mir nicht Glück gewünscht hättet. Wenn es jemals überhaupt ein Mißverständnis zwischen uns gegeben hat, СКАЧАТЬ