Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
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Читать онлайн книгу Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter Benjamin страница 132

СКАЧАТЬ Sie sich nicht? Kennen Sie ihn nicht mehr?« fuhr er fort. Er bedeckte das Gesicht einen Augenblick mit der Hand und strich sich wieder über die Stirn. Dann richtete er seine Augen mit einem gefühllosen, gemeinen und rohen Ausdruck auf Redlaw:

      »Hol Sie der Teufel«, rief er wild umherblickend. »Was haben Sie aus mir gemacht. Lustig hab ich gelebt, und lustig will ich sterben. Hol Sie der Henker!« und er legte sich wieder aufs Bett zurück, hob die Arme und legte sie hinter Kopf und Ohren, von diesem Augenblick an entschlossen, in vollständiger Gleichgültigkeit vom Leben zu scheiden.

      Wenn den Chemiker der Blitz getroffen, hätte er nicht jäher vom Bette zurückprallen können. Aber auch der Alte, der, während sein Sohn mit Redlaw sprach, zur Seite getreten war, mied mit Abscheu das Lager.

      »Wo ist mein Sohn William?« fragte der Alte hastig. »William, komm fort von hier. Wir wollen nach Hause!«

      »Nach Hause? Vater«, rief William aus, »willst du denn deinen eigenen Sohn verlassen?«

      »Wer ist denn mein eigener Sohn?«

      »Wer? Doch der dort!«

      »Das ist nicht mein Sohn«, sagte Philipp und zitterte vor Erbitterung. »Ein Schuft wie dieser hat nichts mit mir gemein. Meine Kinder sehen sauber aus und bedienen mich und geben mir zu essen und zu trinken und sind mir nützlich. Ich habe wahrhaftig ein Recht darauf, ich bin siebenundachtzig.«

      »Du bist alt genug und brauchst nicht noch älter zu werden«, brummte William, sah ihn scheel von der Seite an und steckte die Hände in die Taschen. »Ich möchte gern wissen, wozu du noch taugst? Ohne dich könnte es wirklich fideler sein.«

      »Mein Sohn! Mr. Redlaw«, sagte der Alte, »mein Sohn! Das fehlte gerade noch! Der Junge spricht von meinem Sohn. Ich möchte gern wissen, was der mir jemals Angenehmes gebracht hätte.«

      »Und ich möchte gern wissen, was ich jemals von dir Gutes gehabt habe«, knurrte William.

      »Laß mich mal nachdenken!« sagte der Alte. »Wie viele Weihnachten über hab ich auf meinem warmen Plätzchen gesessen und mußte nicht in die kalte Nachtluft hinaus und hab mir's wohl sein lassen, ohne daß ich durch einen so häßlichen widerlichen Anblick, wie der Kerl da einer ist, gestört worden bin. Sind's zwanzig Weihnachten, William?«

      »Mir scheint es schon eher wie vierzig«, brummte dieser. »Na, wenn ich meinen Vater ansehe, Sir, und daran denke«, und er wandte sich an Redlaw mit einer ungeduldigen Gereiztheit, die ganz neu an ihm war, »dann will ich mich hängen lassen, wenn ich etwas anderes in ihm sehen kann als einen Kalender von einer ganzen Reihe Jahren von Essen, Trinken und Faulenzen.«

      »Ich – ich bin siebenundachtzig«, sagte der Alte, kindisch und schwach weiterfaselnd, »und niemals hat mich was sonderlich gestört. Ich will jetzt nicht davon reden, wegen des Menschen dort, den er meinen Sohn nennt. Er ist nicht mein Sohn. Ich hab eine Menge schöne Zeiten gehabt, ich erinnere mich noch –; nein, doch nicht, nein, ich hab es vergessen. Es war so etwas wie von Kricket und einem Freund von mir, aber ich kann mich seiner nicht mehr entsinnen. Ich möchte nur wissen, wie das war. Ich konnte ihn gut leiden. Was wohl aus ihm geworden ist. Ich glaube, er starb, aber ich weiß es nicht. Übrigens ist es mir ganz gleichgültig.«

      Er kicherte schläfrig und schüttelte den Kopf und steckte die Hände in die Westentaschen. In einer fand er ein Stück Stechpalme, wahrscheinlich vom gestrigen Abend. Er nahm es heraus und sah es an.

      »Beeren, aha. Schade, daß man sie nicht essen kann. Ich erinnere mich noch, daß ich spazierenging, als ich ein kleiner Kerl war, nicht größer als so – mit wem ging ich doch spazieren? –, ich kann mich absolut nicht mehr erinnern, wie das damals war. Ich weiß nicht mehr, mit wem und ob jemand bei mir war. Beeren, was! Es ist immer lustig, wenn's Beeren gibt. Ich sollte eigentlich auch einen Teil davon bekommen, und man muß mich bedienen und mir alles warm und gemütlich machen, denn ich bin siebenundachtzig und ein armer, alter Mann. Ich bin siebenundachtzig, siebenundachtzig.«

      Die faselnde jämmerliche Art, mit der er dies vorbrachte und dabei an den Blättern nagte und das Zerkaute wieder ausspuckte, die kalten gleichgültigen Blicke, die ihm sein jüngster Sohn zuwarf, die trotzige Verstocktheit, mit der sein ältester Sohn dalag, all das kam dem Chemiker nicht mehr zum Bewußtsein, er riß sich von der Stelle los, auf der er wie gebannt gestanden, und stürzte aus dem Hause hinaus.

      Sein junger Führer kam aus seinem Versteck hervorgekrochen und stand bereit, ehe noch Redlaw den Boden erreichte.

      »Zur Frau zurück?« fragte er.

      »Ja, schnell heim«, antwortete Redlaw. »Bleib nirgends unterwegs stehen!«

      Eine kleine Strecke weit lief der Junge vor ihm her, aber ihr Heimweg war mehr eine Flucht als ein Spaziergang, und nur mit großer Mühe konnte der Junge mit seinen bloßen Füßen mit dem Chemiker gleichen Schritt halten.

      Scheu alle Vorübergehenden meidend, dicht in seinen Mantel gehüllt, als ob die leiseste Berührung desselben den andern eine tödliche Ansteckung bringe, machte Redlaw nicht eher halt, bis sie die Tür erreichten, durch die sie zuerst auf die Straße getreten waren. Er sperrte sie auf, trat mit dem Jungen hinein und eilte durch die dunkeln Gänge in sein Zimmer. Der Junge ließ ihn nicht aus den Augen, als die Tür abgesperrt wurde, und verkroch sich unter den Tisch.

      »Sie, fassen Sie mich nicht an!« sagte er. »Sie wollen mir wohl mein Geld nehmen?«

      Redlaw warf noch einige Geldstücke auf den Boden. Der Junge warf sich sogleich mit dem Körper über sie, wie um sie vor dem Blick des Mannes zu verbergen und damit er nicht am Ende Lust bekäme, sie wieder zurückzufordern. Erst als er den Chemiker wieder bei der Lampe sitzen sah, das Gesicht in den Händen vergraben, fing er an, das Geld verstohlen aufzulesen. Als er damit fertig war, schlich er sich ans Feuer, setzte sich in einen großen Stuhl, holte aus der Brust ein paar Speiseüberreste und fing an zu kauen und in die Glut zu starren, dann und wann seine Schillinge anschauend, die er fest in der geballten Hand hielt.

      »Und dieses da«, sagte Redlaw mit wachsendem Widerwillen und Grausen, »ist der einzige Gefährte, der mir noch auf Erden bleibt.«

      Wie lange es währte, ehe er aus der Betrachtung des Geschöpfes, das er so verabscheute, erwachte, ob es eine halbe Stunde oder die halbe Nacht währte, er wußte es nicht. Aber plötzlich horchte der Junge auf und unterbrach die Stille des Zimmers, indem er aufsprang und nach der Türe lief.

      »Die Frau kommt!«

      Der Chemiker riß ihn zurück, doch schon klopfte es an die Türe.

      »Lassen Sie mich zu ihr«, rief der Junge.

      »Jetzt nicht«, entgegnete der Chemiker. »Hiergeblieben! Nie- mand darf jetzt herein oder heraus. Wer ist da?«

      »Ich bin's, Sir«, rief Milly. »Bitte, machen Sie auf!«

      »Nein, nein!«

      »Mr. Redlaw, bitte, bitte, lassen Sie mich hinein!«

      »Was gibt es?« fragte er und hielt den Knaben fest.

      »Der Unglückliche, bei dem Sie eben waren, liegt im Sterben, und nichts, was ich mit ihm spreche, kann ihn aus seiner entsetzlichen Verblendung reißen. Williams Vater ist im Handumdrehen kindisch geworden, William selbst ist wie ausgewechselt. Der Schlag ist zu plötzlich gekommen. Ich verstehe ihn nicht mehr. Er gleicht sich selbst nicht mehr. Ach, Mr. Redlaw, bitte, raten Sie mir, helfen СКАЧАТЬ