Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen
Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027208821
isbn:
Wenn Gilberte, die ihre Tees zwar gewöhnlich am Empfangstage ihrer Mutter gab, einmal sicher abwesend war und ich zum Jour von Frau Swann gehen konnte, fand ich sie in einer schönen Robe aus Taft oder Faille, Samt oder Crêpe de Chine, Satin oder Seide, aber nicht leicht anliegend wie die Déshabillés, die sie gewöhnlich zu Hause trug, sondern angetan wie zum Ausgehen, wodurch an solchen Nachmittagen ihre Muße munter und bewegt geriet. Der kühne einfache Zuschnitt war ihrem Wuchs und ihren Bewegungen angepaßt, deren mit den Tagen wechselnde Farbe in den Ärmeln zu wohnen schien: im blauen Samt lag plötzliche Entschiedenheit, im weißen Taft leichte Laune; und eine letzte distinguierte Zurückhaltung in der Art, den Arm auszustrecken, kleidete sich, um sichtbar zu werden, in schwarzen Crêpe de Chine, der wie das Lächeln großer Opfer glänzte. Zugleich aber fügte diesen lebhaften Roben die Häufung der ›Garnituren‹ ohne praktischen Nutzen, ohne sichtbaren Sinn, etwas Uneigennütziges, Nachdenkliches, Verstecktes hinzu, das zu der Melancholie stimmte, die Frau Swann zumindest immer in den Schatten um die Augen und in den Fingergliedern behielt. Unter dem Überfluß der Glücksreifen aus Saphir, der vierblätterigen Kleeblätter aus Email, der silbernen Medaillen, goldenen Medaillons, Amulette aus Türkis, Ketten aus Rubin und Topaskügelchen, gab es in dem Kleide selbst hier und da ein farbiges Dessin, das auf einem Einsatzstück seine frühere Existenz fortführte, eine Reihe kleiner Satinknöpfe, die nichts knöpften und nicht aufgeknöpft werden konnten, eine Litze, die mit der diskreten Genauigkeit einer zarten Aufforderung zu erfreuen suchte, und das alles sah, wie auch die Juwelen, so aus – sonst hätte es ja keine Rechtfertigung gehabt –, als habe es Absichten zu verraten, Neigungen zu verbürgen, Bekenntnisse zurückzuhalten, einem Aberglauben zu entsprechen, Erinnerung an eine Heilung, ein Gelübde, eine Liebe oder Vielliebchenwette zu bewahren. Und bisweilen gab im blauen Samt der Ansatz zu einem Henri II-Schlitz, eine leichte Bauschung der Ärmel nahe den Schultern, die an die ›Hammelkeulen‹ von 1830, oder unter dem Rock, die an die Louis-XV-paniers erinnerte, dem Kleid den leisen Anschein eines ›Kostüms‹, unterlegte dem gegenwärtigen Leben eine ununterscheidbare Reminiszenz an Vergangenes und vermischte mit der Persönlichkeit von Frau Swann den Reiz historischer Heldinnen oder Romanfiguren. Wenn ich auf Sport zu sprechen kam, sagte sie: »Ich spiele nicht Golf, wie mehrere meiner Freundinnen. Ich hätte keine Entschuldigung wie sie, im Sweater zu sein.«
Hatte sie gerade einen Besuch hinausbegleitet oder eine Kuchenschüssel ergriffen, um einem andern sie anzubieten, nahm mich Frau Swann im Vorübergehen mitten im allgemeinen Treiben eine Sekunde beiseite und sagte: »Ich bin eigens von Gilberte beauftragt, Sie für übermorgen zum Frühstück zu bitten. Da ich nicht sicher war, Sie heute zu sehen, wollte ich Ihnen schon schreiben.« Ich setzte meinen Widerstand fort. Und er kostete mich weniger und weniger Mühe; denn so sehr wir das Gift, das uns wehtut, lieben, – hat es uns seit geraumer Zeit ein Zwang entzogen, so können wir uns nicht enthalten, der Ruhe, die wir schon nicht mehr kannten, der Abwesenheit von Aufregung und Leid einigen Wert beizumessen. Ist man nicht ganz aufrichtig, wenn man sagt, man wolle die nie wiedersehen, die man liebt, so ist man's wohl auch nicht, wenn man sagt, man wolle sie wiedersehen. Allerdings kann man ihre Abwesenheit nur ertragen, indem man auf die Kürze ihrer Dauer rechnet und an den Tag des Wiederfindens denkt, andererseits aber sind uns die täglichen Träume von einem nahen, beständig vertagten Wiederbeisammensein weniger schmerzlich, als es eine Zusammenkunft wäre, der Eifersucht folgen könnte, und so kann uns die Nachricht, daß wir die Geliebte wiedersehen sollen, in wenig angenehme Erregung versetzen. Was man jetzt tagtäglich hinausschiebt, ist nicht der Abschluß der unerträglichen Bangigkeit, an der die Trennung schuld ist, sondern der gefürchtete Wiederbeginn der Aufregungen ohne allen Ausweg. Wie sehr zieht man doch einer solchen Zusammenkunft den Zustand gefügiger Erinnerung vor, die man nach Belieben durch Träumereien ergänzen kann, in denen sie, die uns in Wirklichkeit nicht liebt, wenn wir ganz allein sind, uns Liebeserklärungen macht; ja diese Erinnerung, die man schließlich durch allmähliches Beimischen von viel Ersehntem beliebig süß machen kann, zieht man der aufgeschobenen Zwiesprach vor, bei der man es mit einem Wesen zu tun bekäme, dem man nicht mehr beliebig die ersehnten Worte diktieren, von dem man vielmehr neue Kälte, unerwartete Heftigkeit stoßen könnte. Wir alle wissen, wenn wir nicht mehr lieben, daß Vergessen und selbst leises Erinnern nicht so viel Leid verursachen als unglückliche Liebe. Die ruhevolle Süße eines solchen vorweggenommenen Vergessens zog ich, ohne mir das einzugestehen, anderen Möglichkeiten vor.
Übrigens wird das Peinliche einer solchen Kur physischer Loslösung und Isolierung aus einem andern Grunde immer geringer: diese Kur schwächt, bevor sie von ihr heilt, die fixe Idee, die man Liebe nennt. Meine Liebe war noch so stark, daß ich Wert darauf legte, mein ganzes Ansehen in Gilbertes Augen wiederzuerobern; das mußte nach meiner Meinung durch freiwillige Trennung fortschreitend wachsen, und jeder der stillen, traurigen Tage, in denen ich sie nicht sah, war, wie sie so, einer nach dem andern, kamen, ohne Unterbrechung, ohne Verjährung (es sei denn, daß ein Störenfried sich einmischte) kein verlorener, vielmehr ein gewonnener Tag. Nutzlos gewonnen vielleicht, denn bald würde ich geheilt erklärt werden können. Resignation ist СКАЧАТЬ