Название: Der Gott, der uns nicht passt
Автор: Tobias Wolff
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Material zum geistlichen Dienst
isbn: 9783942001274
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Schon auf den ersten Seiten der Bibel wird Gottes Liebe und Fürsorge für seine Schöpfung deutlich. Gottes Zuwendung zum Menschen zeigt sich in der Urgeschichte in besonderer Weise, etwa in Gen 2, wo Gott wie ein Töpfer dem Menschen, den er bildet, ganz nahe kommt sowie im Anlegen des Paradiesgartens, der wie in Gen 1 dem Menschen fertig übergeben wird. Gen 2–3 nimmt insofern unter allen altorientalischen Schöpfungserzählungen „eine Sonderstellung ein, als der Schöpfergott hier nicht, wie sonst üblich …, das kollektive Menschengeschlecht … schafft, das den Arbeitsdienst der Götter übernehmen soll und dafür (!) entsprechend ausgestattet wird, sondern er schafft ein Menschenpaar, um dessen menschliches Wohlergehen er sich sorgt.“57 Das kennzeichnet den Gott der Bibel (und unterscheidet ihn von den altorientalischen „Kollegen“): Zur Erschaffung des Menschen gehört seine Versorgung.58 Vgl. ferner die Aussetzung des in Gen 2,17 verkündeten Todesurteils – der Tod tritt erstmals durch des Menschen Bruderhass ein, durch Menschenhand, nicht durch Gottes Hand (!) –, die Bekleidung der Menschen (Gen 3,21)59, das Schutzzeichen für Kain, Noahs Gnade und die Segenszusage an Abraham nach der Hybris und Zerstreuung der Menschen (Gen 11 u. 12). „Güte und Menschenliebe“ kennzeichnen den Gott der Bibel (Titus 3,4). Das ist der Gott und Vater Jesu, „der in Jesus Christus am Werk ist, Jahwe, … der Mühe und Arbeit mit seinem Menschen hat, der Geduld beweist und Strafe verschiebt, der mitten im notwendigen Gericht Erbarmen zeigt“.60
Dazu fügt es sich auch, dass wir in vielen Texten des AT eine Sehnsucht des Frommen nach diesem Gott und eine Liebe zu seinen Geboten finden, die ihresgleichen sucht. Es sollte uns zu denken geben, dass gerade die Menschen im AT, die diesen Gott am meisten kannten, ein besonders starkes Verlangen nach seiner Nähe hatten.61
6 AT oder NT?
Das neutestamentliche Christusereignis kann nur vom Alten Testament her vollständig verstanden werden. Das ist die bleibende fundamentale Bedeutung des Alten Testaments für die Verkündigung der Kirche … Wir brauchen die Erinnerung, daß kein neutestamentlicher Schriftsteller sich in der Lage sieht, Jesus Christus zu bezeugen, ohne beständig das Alte Testament aufzuschlagen …62
Wer im AT liest, wird vieles interessant, bewegend und persönlich ansprechend finden (nicht nur Ps 23), anderes aber erscheint fremd oder irrelevant (die Kultsatzungen, manche „merkwürdigen“ Gesetzestexte), ja, vielleicht sogar abstoßend (wie die blutige Eroberung des „Gelobten Landes“ nach Josua 10,40). Man kommt zu diesen endlos langen Geschlechtsregistern, den ausführlichen Angaben zu verschiedenen Opferriten, detaillierten Baubeschreibungen – was soll das mit unserem Leben und Glauben zu tun haben? Man liest und liest, wird müde, und hört schließlich auf. Selbst wer überzeugt ist, dass das AT Wort Gottes ist, muss die Frage klären: Inwiefern sind die altisraelitischen Gebote, Rituale, Berichte etc. relevant für unser Christenleben heute? Große Textteile mit Zeremonialgesetzen bezüglich Opferarten, ritueller Reinheit, Unterstützung des Priester- und Levitendienstes, Festen und so weiter.63 Sagt Paulus nicht sowieso, dass das mosaische Gesetz für den Christen nicht mehr gilt?
Dazu kommt, dass sachgemäße Auslegung des AT einen höheren Grad von Kenntnissen verlangt, als es auf den ersten Blick beim Neuen Testament der Fall zu sein scheint. Das historische Material ist nicht nur umfangreicher, es ist differenzierter. Auch die Textgattungen sind sehr mannigfaltig.64 Vielen Christen ist das Alte Testament fremder und ferner als das Neue Testament. Ein rechtes Verständnis des AT sei eben erst „durch einige Denkarbeit“ zu bewältigen, wie der Alttestamentler Siegfried Herrmann (1926–1999) erklärte. Er berichtet von einem älteren Pfarrer, welcher zugab, er sei froh, nicht über die Sintflut predigen zu müssen, denn da wisse er nicht, was er sagen sollte und kommentierte, es sei
erstaunlich zu beobachten, wie die oft ungewöhnlich plastischen Texte im Munde der Prediger verblaßten, die sich mit einigen wohlgemeinten historischen Reminiszenzen begnügten, um möglichst rasch den Namen Jesu Christi zu nennen. Dieser Name war dann aber an seiner Stelle nicht die Krönung einer durchdachten ausgewogenen Textauslegung, sondern er war zu einer bloßen Vokabel degradiert, die den günstigen Absprung in die seichteren Wasser allsonntäglicher Kanzel-Erbaulichkeit in wohlvertrauter Begriffssprache ermöglichen sollte.65
Es ist keine gute Lösung, das AT zu ignorieren, wie im Beispiel des eben erwähnten älteren Predigers. Viel problematischer scheint mir aber, eine radikale Trennung (radical discontinuity) zwischen beiden Testamenten aufgrund ihres vermeintlich unüberwindlichen Gegensatzes zu postulieren (der lange Schatten Marcions). Für diesen „hermeneutischen“ Ansatz spricht sich Professor C. S. Cowles von der Point Loma Nazarene University in San Diego aus.66 Nach Cowles können die in manchen Texten berichteten Grausamkeiten (atrocities, a. a. O, 15) nicht mit dem Gott Jesu in Verbindung gebracht werden. Passagen wie Dtn 7,2; Jos 6,21; 10,40 oder 1Sam 15,3 stünden Jesu Gesinnung total entgegen („Not so Jesus!“ a. a. O., 30)! Um diese Diskontinuität der beiden Testamente aufrechtzuerhalten, muss Cowles einige Bibeltexte als spätere, menschliche Zusätze ausscheiden: „When Jesus affirmed the Hebrew Scriptures as the authentic word of God, he did not endorse every word in them as God’s.“
Dazu zählen nach Cowles praktisch alle mosaischen Gebote, die Diskriminierung oder Gewalt beinhalten: „His command to ’love your enemies’ (Matt. 5:44) represents a total repudiation of Moses’ genocidal commands and stands in judgement on Joshua’s campaign of ethnic cleansing.“67
Wenn Gott nie irgend eine gewaltsame Aktion von Israel forderte, wirft das aber – wie Eugene H. Merrill zu Recht feststellt – erhebliche Fragen an die Glaubwürdigkeit der biblischen Zeugen auf68. Außerdem unterschlägt man dann zugleich Aussagen wie Offb 19,11–15 (auch das NT enthält „Gewalttexte“, besonders die Offenbarung des Johannes). Dass nach Cowles Vorstellung Christen nicht Gott als „Vater Abrahams, Isaaks und Jakobs“ (Ex 3,6) betrachten sollten, sondern als „Vater unseres Herrn Jesus, den Vater der Erbarmungen und Gott allen Trostes“ (2Kor 1.3)69, untergräbt in bedenklicher Weise die Tatsache, dass der Gott des Alten Bundes auch der Gott Jesu ist (vgl. Mt 22,32; Apg 3,13; 7,32)!
7 AT und NT!
The church can never be parted with the Old Testament.70
Wir brauchen die Autorität, die uns von Gott und Jesus erzählt. Die Bibel hat Autorität: Sie erhält sie von Gott, über den sie spricht. Was würden wir über Gott wissen, wenn das Alte und Neue Testament nicht wären?71
Der Anhang des Nestle-Aland-Textes listet ca. 3000 Anspielungen oder Zitate aus dem AT im NT auf!72 Ohne das AT wäre das NT wesentlich kürzer und weniger verständlich! „So gut wie keine at.liche Schrift bleibt innerhalb des NT ohne Spuren, wobei Gen, Dtn, Jes, Kl. Proph. und Pss besonders häufig zitiert werden.“73
Doch obwohl auch das Alte Testament Autorität über Lehre und Glauben beansprucht, gibt es Passagen, die im Alltag christlicher Frömmigkeit keine große Rolle spielen. Dazu gehören die vielen Anweisungen des Zeremonialgesetzes, das Kult und Tempeldienst regelt. Relevant erscheint uns aber das Moralgesetz, besonders die „10 Gebote“.74 Das AT differenziert jedoch, jedenfalls von der Anordnung der Texte her, nicht zwischen unterschiedlichen Gesetzesinhalten: Lev 19,18f überliefert unmittelbar nebeneinander das Gebot der Nächstenliebe und die Mahnung, nicht „zweierlei“ Tiere, Feldfrüchte, Gewebesorten zu „vermischen“. Den ersten Teil ordnen wir instinktiv als wichtig ein (natürlich, wird er doch auch von Jesus aufgegriffen, s. u.), den Rest halten viele heute für belanglos. Dennoch liegt auch hierin eine wichtige theologische Wahrheit.
Gott begann sein Schöpfungswerk mit einer bedeutenden Trennung (Gen 1,4b): Licht und Finsternis sollten sich nicht mischen. Damit ist zunächst nicht mehr gesagt, als dass der Wechsel des Tages- und Nachtrhythmus eingeführt wird. Die Trennung des Lichtes von der Finsternis bewirkte aber nicht nur die Unterscheidung von Tag und Nacht, sondern auch von Gut und Nicht-Gut, denn Gott sah, dass das Licht gut war, und trennte das Licht von der Finsternis. Der qualitative Unterschied von Licht und Finsternis ist im Alten Testament so ausgeprägt, dass Licht identisch mit Glück und Segen (Am 5,20 u. ö., Ps 27,1 u. ö.), Finsternis mit Fluch und Verderben (z. B. СКАЧАТЬ