Sollten wir z. B. den „problematischen“ Schlussteil von Psalm 137 aus der öffentlichen Verkündigung ausklammern, um die Hörer nicht zu verunsichern? Sollen sich nur noch Spezialisten an solchen Texten abmühen, während die „erbaulichen“ Stellen der Gemeinde präsentiert werden? Dann aber würde doch ein wesentliches Thema (nach Norbert Lohfink das vorherrschende anthropologische Thema des Alten Testaments) in einer Art „bad bank des biblischen Erbes“ verwaltet.20
Es geht also nicht an, solche Berichte mit Schweigen zu übergehen oder sie „korrigieren“ zu wollen (z. B. durch metaphorische Umdeutung oder indem wir sie als späte Fiktionen erklären). Bei all dem kann man sich des (irrigen) Gefühls nicht erwehren, man habe es im AT doch mit Gesetzlichkeit und einem „harten Gott“, im NT mit Gnade und dem lieben Heiland zu tun. Die Akzeptanz des gesamten Buches hängt durchaus von dem Gottesbild, das wir dem AT entnehmen, ab. Für viele ist es …
2 … der Gott, der uns nicht passt
Kritiker wie der oben zitierte Richard Dawkins (Der Gotteswahn, Berlin 2007) und Christopher Hitchens (Der Herr ist kein Hirte: Wie Religion die Welt vergiftet. München 2009) schrieben Bestseller, indem sie den schlechten Ruf Gottes zum Thema machten. Sie beschäftigen sich scheinbar intensiv mit den Texten der Bibel, denen wir Christen gern aus dem Weg gehen (umgekehrt meidet Dawkins Texte, die Gott günstig porträtieren). Wir Christen müssen uns dem Wort Gottes in seiner Gesamtheit stellen. David Lamb hat Recht, wenn er beklagt:
Dadurch, dass Bibellehrer gewisse Textstellen so häufig meiden, während Autoren wie Dawkins sich darüber äußern, kann der Eindruck entstehen, Atheisten läsen die Bibel sorgfältiger als die Leute, die sie als das Wort Gottes ansehen.21
Dazu passt auch, dass das Thema der „göttlichen Gewalt“ in AT-Theologien praktisch keine Rolle spielt. Der Bonner Altestamentler Ulrich Berges nennt als Ausnahme den US-amerikanischen Theologen Walter Brueggemann (Theology of the Old Testament, 1997).22
Der Essener Systematik-Professor Ralf Miggelbrink spricht von einem sonderbaren Widerspruch: Der biblische Gott sei nach dem AT „ganz zentral bestimmt“ durch seinen Zorn (dazu s. u.), andererseits sei die christliche Verkündigung ganz konzentriert auf die Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes!23 In der Tat passen Erzählungen von einem aggressiven Gott nicht mehr in das gängige Gottesbild. Während man in der Vergangenheit Gott vor allem als Wächter der Ordnung predigte, der richtet und straft, werde in den letzten Jahrzehnten immer stärker der gütige Gott betont. „Die biblische Aussage ‚Gott ist die Liebe‘ (1. Johannesbrief 4,8) wurde zur alles beherrschenden Grundaussage … Biblische Texte, die sich dieser Aussage nicht einfügten, wurden beiseite geschoben“.24
Obwohl Gottes Liebe ein Kernstück christlichen Glaubens ist, ergibt sich durch die Ausblendung unliebsamer Texte ein unvollständiges Gottesbild. Klaus-Stefan Krieger macht dafür vor allem das menschliche Harmoniebedürfnis und die „Bequemlichkeit der Verkündiger“ verantwortlich.25 Ihm ist auch zuzustimmen, wenn er feststellt, dass die Bibel keine abgeschlossene Theorie von Gott biete, sondern „eine Sammlung von Gotteserfahrungen“, die unvollständig bleiben müssen. Darunter gibt es gute und schlechte, mutmachende und verstörende Erfahrungen. Man vergleiche nur Stellen wie Mk 4,41; Lk 2,9; Ri 13,21f; Ex 33,20 neben vielen anderen. Die Grazer Alttestamentlerin Irmtraud Fischer erklärt zu Recht, dass der pure Wunsch oder die Behauptung, Gott und Gewalt schlössen sich aus, „noch keine aus der Bibel … verantwortete und verantwortbare Theologie“ machen.26
Gottesbegegnungen in der Bibel zeigen, dass dieser Gott auch gefährlich sein kann (Bileam in Num 22,22; Mose in Ex 4,24). So ergibt sich ein gar nicht glattes und bloß gefälliges Gottesbild: Der Gott der Barmherzigkeit, der Güte, der Liebe, erweist sich nach manchen biblischen Texten auch als „schlagender Gott“ (Manfred Görg)27:
Er tritt Mose entgegen, um ihn zu töten (Ex 4,24). Der kurze Text gilt als „inhaltlich dunkel“ und „erschreckend fremdartig“.28 Gerade erst wurde Mose beauftragt, zum Pharao zu gehen. Sollte Gott nun „danach trachten“, ihn zu töten? Manche glauben daher, dass in V. 24 Moses Sohn gemeint war. Das Gesetz der Beschneidung forderte doch, dass die unbeschnittene Person „ausgerottet werde aus ihrem Volke“ (Gen 17,4), nicht dessen Vater. Doch dann hätte der Name des Sohnes bzw. ein Hinweis auf ihn bereits in V. 24 stehen müssen. Der Kontext weist aber auf Mose. Die Bundesvorschrift aus Gen 17 galt seit Abrams Zeiten. Mose ging in das Land Midian, heiratete schließlich Zippora und hatte zwei Söhne, Gerschom und Elieser (Ex 18,3f). Midian war ein Sohn Keturahs und sicherlich befolgte Abraham den Ritus der Beschneidung mit all seinen Söhnen, die er mit Keturah hatte. Die Patriarchen praktizierten die Beschneidung weiter (Gen 34,13–24). In Midian war Erwachsenenbeschneidung üblich – vielleicht hatte Zippora deshalb, nach ihrer Sitte, damit bei ihren Söhnen gewartet? Für Israel hatte Gott aber die Beschneidung im Alter von 8 Tagen eingefordert (Gen 17). Nun unterstellt Zippora sich und ihre Familie dem Gott Israels und stellt durch Berührung die Verbindung her zwischen ihrer Tat und Mose.
Interessanterweise erlebten alle Patriarchen ähnliche Gottesbegegnungen, d. h. sie lernten alle Gott kennen, nicht nur als den Retter und Beistand, sondern auch als den Heiligen, der zu lieben, aber auch zu fürchten ist: Abraham (Gen 22 Forderung des Sohnes), Isaak (Gen 31,42 Jahwe ist „der Schrecken Isaaks“), Jakob (Gen 32,23 Kampf am Jabbok). Auch Mose musste erkennen, dass er sich Gott noch nicht ganz ausgeliefert hatte, indem er das Beschneidungsgebot missachtete. Gott greift nun ein, um dieser „lebenswichtigen Forderung“ (Gen 17,14) wieder Geltung zu verschaffen. Mose hatte dies bei seinem Sohn unterlassen. Zippora erkennt die Ursache und tut, was Mose hätte tun sollen und bringt ihren Mann mit dem Blut der Beschneidung in Verbindung. „Blutbräutigam“ nennt sie Mose, weil er ihr durch diese Beschneidung (V. 26) neu geschenkt wurde. Mose lernt zudem, dass der Mensch Schutz braucht – nicht vor dem Zorn des Pharao, sondern vor dem Zorn Gottes – und dass Gott in seinem Gnadenbund und in der Beachtung seiner Gebote diesen Schutz gewährt.29 Martin Buber wählte für dieses Kapitel in seiner Monografie den Titel „Göttliche Dämonie“ und erklärte: „Es gehört zum Urwesen dieses Gottes, dass er den, den er erwählte, auch restlos einfordert“.30
Gott „schlägt“ die Erstgeburt Ägyptens (Ex 12,12.23.29). Er gebietet den Völkermord in Kanaan!31 Und was ist das für ein Gott, der das Opfer eines geliebten Kindes fordert? In seiner Deutung der Bindung Isaaks in Gen 22 zieht der Münsteraner Alttestamentler Johannes Schnocks unter anderem folgenden Schluss (Hervorhebung von mir):
Einerseits ist dieser Gott nicht harmlos. Er ist durchaus bereit, wie in Gen 20,3 eine Todesdrohung gegen Abimelech auszusprechen, wie in Gen 20,17 eine Unfruchtbarkeit über das Haus Abimelech zu verhängen oder Abraham wie in Gen 21,12f zu einem Verhalten zu raten, das zunächst Ismaels Überleben gefährdet. Andererseits offenbart er sich dem Abimelech und zeigt Lösungswege auf, damit die Todesdrohung nicht Wirklichkeit wird. Er rettet Hagar und Ismael und macht ihn zum Stammvater … eines großen Volkes. Dieser Gott ist ein souveräner Herr über Leben und Tod, aber das Leben hat in diesen Erzählungen immer das letzte Wort.32
Weit entfernt davon, dass Gen 22 Gewalt in religiöser Pflichterfüllung verherrlicht, muss man den Text als „Denkmodell für das Vertrauen auf Gott in einer existenziellen Krise schlechthin“ verstehen.33 Das Entscheidende in Abrahams Erprobung ist nicht einfach blinder Gehorsam, sondern das bedingungslose Vertrauen in einen Gott, dessen Verhalten bisweilen auch rätselhaft und dunkel sein kann, ein Gott, der sich auch dem Beter mitunter als „verborgener Gott“ präsentiert34. Es geht um Beziehung zu dem, der Herr über Leben und Tod ist. „Darin, dass er angesichts der Verborgenheit Gottes bis zuletzt auf den vertraut hat, der allein retten kann (V.5b.8a), ist Abraham vorbildlich“.35
Und Isaak? In Gen 31,42 lesen wir von Jahwe als den „Gott Abrahams und den Schrecken Isaaks“ (elohej avraham ufachad jizchaq)! Isaak lernt, dass dieser Gott Liebe, Respekt und Gehorsam verdient. Gott „bleibt diesem Sohn ein erhabener ‚Schrecken‘ …“.36
3 Nicht Zorn, sondern Barmherzigkeit!
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