Название: Gesammelte Werke
Автор: Isolde Kurz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962812515
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Sie wohnte um jene Zeit bei Erwin in München und ich im Erdgeschoss eines Nachbarhauses, sodass ich immer zu ihr konnte und sie zu mir. Nur während ich an den zwei Novellen schrieb, brauchte ich mehr Zeit für mich. Das war ihr unnatürlich, denn es zog sie wie mit Ketten herüber; ihre klagenden Zettel die zu mir flogen zerrissen mir das Herz. Noch immer lief sie wie im Flug ihre drei hohen steilen Treppen herunter zu mir ins Nachbarhaus, sobald die vorübergehende Sperre aufgehoben wurde, und war jedes Mal früher da als verabredet. Ihr Morgenbesuch an meinem letzten Geburtstag, den sie erlebte, war das Rührendste was sich denken ließ. Sie hatte noch immer die Gewohnheit beibehalten, mich an diesem Tag mit einem brennenden Weihnachtsbäumchen aus dem Schlaf zu wecken. Das Bäumchen war im Lauf der Jahre kleiner und kleiner geworden, diesmal war es nur noch ein in den Topf gesetztes Tannenreis mit ein paar armen Wachslichtern darauf, aber in diesen brannte die ganze unendliche Liebe einer Mutter.
In dieser Zeit der abnehmenden Körperkraft muss sie die Erkenntnis mit Schrecken durchdrungen haben, in welcher Vereinsamung ich zurückblieb, nachdem ich alle die Jahre her, fast ganz vom Verkehr abgeschnitten und jeder anderen Bindung beraubt, nur noch für sie gelebt hatte. Ohne mein Wissen begann sie nach allen Seiten Briefe zu schreiben, die Vertrauenswertesten unter den Freunden auf mich zu vereidigen, um einen Schutzwall von Liebe und Treue um mich aufzurichten für die Zeit, wo sie nicht mehr sein würde. »Denke nicht mehr an mich, ich bin deine Vergangenheit«, schrieb sie einmal im letzten Herbst ihres Lebens, als ich mich vorübergehend bei einer Freundin auf dem Lande aufhielt. Was mag ihr ein solches Wort gekostet haben. Jene irrten, die mich nachmals ermahnten, ihr die so sehr ersehnte Ruhe zu gönnen: nur in der gefassten Stärke ihres Gedankens trug sie den Tod mit sich und äußerte sich so auch in Briefen, ihr Gefühl stieß ihn immer aus, denn solche Lebensfülle hat keine wahre Gemeinschaft mit dem Nichtmehrsein. Im Kreis der Enkel war sie noch immer die Jüngste und Lachendste. Und wenn Thole sie auf der Treppe traf, so pflegte er sie festzuhalten, damit sie »zur Schonung seiner Lunge« die Stufen langsamer nehme. Gegen das Frühjahr wurde eine Wohnung im Hause frei, die ich mietete und mit einigen geliehenen Möbelstücken ausstattete, denn mein eigener Hausrat moderte schon im siebten Jahr in dem Gartenpavillon, wo ich ihn bei Freunden in Florenz untergestellt hatte. In dieser Wohnung sollte sich das Letzte erfüllen. Die Frühjahrsstürme Münchens, die ihr so schrecklich waren, nahmen ihr durch die Wände hindurch den Atem, sie saß Nächte lang nach Luft ringend und ich sie im Arm haltend, ihr den Rücken reibend, ihr Sauerstoff zuführend. Das waren Jammernächte. Nun kam die Unruhe der Scheidenden über sie, vermischt mit dem Drang nach dem geliebten südlichen Land, wo sie dreiunddreißig Jahre lang gelebt hatte und wo drei ihrer Söhne schon den langen Schlaf schliefen. Dorthin wollte sie jetzt mit aller Kraft ihrer Seele, sich zu ihnen legen. Welches Fegefeuer eine solche Reise ins Sterben für mich gewesen wäre, stellte sie sich nicht vor; wir besaßen ja in Florenz keine Heimstatt mehr, und wo mag man Gäste aufnehmen, die mit solcher Aussicht kommen? Einzig Forte de’ Marmi konnte noch einmal das Reiseziel sein, aber auch nur, wenn der Strand von den Sommergästen bewohnt war und der ärztliche Freund uns nahe, denn sonst gab es keine Hilfe dort, und zu jener Zeit noch nicht einmal eine richtige Apotheke. Die Kranke musste sich also auf den Frühsommer vertrösten lassen, und ich begann auch wirklich noch einmal die vorläufigen Anstalten zu treffen. Ich hielt mich noch immer an dem Pakt, den ich mit dem Schicksal geschlossen hatte, fest: dass sie nicht sterben dürfe noch könne, solange ich mich mit meiner ganzen Seelenkraft dagegen zu setzen vermöchte. Es mag wie ein Wahnsinn klingen – vielleicht war in jenen Tagen etwas Wahnsinn dabei. Das Wesen verlieren zu sollen, in dessen Liebe man vom ersten Atemzug wie im warmen Kinderbad gelegen hatte. Es war so hold, noch immer Kind zu sein und zur Mutter ein Wesen zu haben, das fast nicht irdisch war, das einem anderen, geheimnisvollen Reiche anzugehören schien. Sie wusste alles, ich wusste es ebenfalls, aber wir taten, als wüssten wir nichts, scherzten und lachten zusammen wie Kinder. Es war wie ein Spielen mit dem Tod, er spielte mit, freundlich, denn er ließ noch Zeit, aber er war zugegen. Zugleich waren auch alle die ernsten und großen Dinge noch da, mit denen sie sich zu beschäftigen pflegte. Während der Körper mehr und mehr schwand, glühte der Geist weiter, er strahlte mit fast unwahrscheinlichem Glanz aus den Augen und lag in einem unbeschreiblichen Lächeln um ihren Mund. – Ein unbewusster, tief unschuldiger Mensch, ohne Schwere wie Luft und Raum! und so ist sie in mir geblieben. Möchte ich einmal den gleichen Nachruhm hinterlassen, denen die mich umgaben, Luft und Raum gewesen zu sein!
Aber das letzte Ringen war furchtbar. Es war wie ein verzweifelter körperlicher Widerstand im Unbewussten gegen die hereinbrechende Übergewalt. Wie lange es noch dauerte, weiß ich nicht, ich hatte zuletzt die Zeitbegriffe verloren. Ihre in meinem Mutterbüchlein dargestellte letzte Lebenszeit ist die von ihr selbst gelebte, die schönere, denn sie sah ja nicht hinter die Kulisse, wo meine seelische und leibliche Not sich verbarg; die steten herzensbangen Nachtwachen, und dass ich kaum noch ins Freie oder zu warmer Nahrung kam, hatten mich gänzlich ausgeschöpft. Ich hatte am Ende keinen Blutstropfen mehr im Gesicht und kämpfte stündlich mit dem Schwindel. Ich musste fürchten selber bewusstlos niederzubrechen, in die Klinik gebracht zu werden und bei meiner Rückkunft den Platz neben mir leer zu finden. Da lockerte ich halb bewusst die gewaltige Willensanspannung, mit der ich sie noch immer hielt, damit ihr nicht das Schwerste zustieße, ohne mich ihren letzten Kampf auszukämpfen. Sobald ich aber wieder Kräfte fühlte, war es auch nur durch ein paar Stunden Schlaf, so suchte ich sie abermals auf das hinsterbende Leben zu übertragen. Doch das Spiel war am Ende. Nach einer schrecklichen Nacht, wo die Lebenskraft noch einmal gewaltsam durchbrach, dass sie sich in meinen Armen wand und rang, wie um sich das Irdische vom Leibe zu ziehen, kam der Augenblick, wo sie aus tiefem Morphiumschlaf in den ewigen hinüberschlief. Ich erlebte diesen Augenblick nicht mehr mit wachen Sinnen, denn ich lag selber im Betäubungsschlaf.
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Unter den Freunden, die meine arme Mutter in ihren letzten Monaten aufgerufen hatte, damit sie mir beistünden, war Einer, der dieses Rufes nicht bedurfte, weil er nie einen höheren Wunsch gekannt hatte als mir nahe zu sein: Ernst Mohl, der Freund meiner frühen Tübinger Tage. Er hing auch an meiner Mutter mit der tiefen Zärtlichkeit eines Sohnes. Seit vierzig Jahren in Russland lehrend, zuletzt als geadelter russischer СКАЧАТЬ