Название: Gesammelte Werke
Автор: Isolde Kurz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962812515
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Die Aphorismen, für die ich nicht leicht ein älteres Verlagshaus hätte gewinnen können, wurden Anlass zu meiner Verbindung mit dem eben aufkommenden vielversprechenden Georg-Müller-Verlag in München, der eine sorgfältige Ausgabe veranstaltete mit einer von befreundeter Hand entworfenen Titelzeichnung. Derselben Stelle dachte ich auch das Werk zu, das ich nach langem Verschub jetzt endlich in Angriff nehmen musste, sollte mir nicht die Erinnerung verblassen: die Lebensgeschichte meines Vaters. Es war nicht ganz leicht, außerhalb des Bereichs literarischer Hilfsmittel, bei nur sehr mäßigem Rüstzeug an brieflichem und sonstigem schriftlichem Nachlass, an dieses verantwortungsvolle Unternehmen heranzutreten. Ich verließ mich dabei vor allem auf das ausgiebigere Gedächtnis der zwei älteren Brüder, von denen ich hoffte, bei den nächsten Sommerferien in Forte dei Marmi, wohin auch Alfred des öfteren zu Gaste kam, manche wesentlichen, von mir vergessenen oder vielleicht gar nicht gekannten Züge erkunden zu können. Aber jetzt eben holte das Schicksal zu dem Schlage aus, der den ganzen Neubau meines Lebens im Grund erschüttern und in seinen Folgen eine weite Verwüstungszone um mich schaffen sollte.
Am 27. April 1904 schied Edgar nach nur vierzehntägiger Krankheit aus dem Leben. Man hatte ihn nicht mehr bettlägerig gesehen seit unseren gemeinsamen Kinderkrankheiten; alle Anfechtungen seiner zarten und durch eine überängstliche Erziehung noch verzärtelten Körperanlage hatte er mit eisernem Willen stehend und gehend in voller Tätigkeit überwunden. Mit dem dämonisch gespannten Blick des delphischen Wagenlenkers, der seine Rennbahn misst, ohne rechts und links zu sehen, hatte er jederzeit seinen Wahlspruch »Ich will« zum Siege geführt. Auch der Todeskrankheit, einer doppelseitigen Lungenentzündung, hatte er sich erst im letzten Stadium ergeben. Ja, er war noch einmal aufgestanden, um einen Schwerkranken zu besuchen, der seinen Arzt um einen Tag überleben sollte. Edgar war der mutigste Mensch, den ich je gekannt habe, denn zu dem durch Selbstzwang gestählten physischen Mut, der zu seiner physischen Kraft außer Verhältnis stand, gesellte sich bei ihm der seltenere Mut des Gedankens und der allerseltenste: der sittliche Mut zur Verantwortung jeder Art. Unfassbar war es für die Angehörigen, diesen Menschen, der überallhin als Helfer und Retter kam, jetzt vor sich zu sehen in der Hilflosigkeit der Krankheit. Die befreundeten Ärzte wussten sich nicht zu raten; er selber sah wohl, dass er in ungenügenden Händen war, weil keiner seinen durchdringenden Scharfsinn besaß. Es fehlt die Logik, sagte er zu mir, als er sich einen Augenblick mit mir allein sah, wenn ich doch selber den Verlauf besser überwachen könnte. Er verfolgte wohl die Symptome, aber das Fieber hatte ihn im Bann, dass er die Gedanken nicht klar zu halten vermochte. Die Muse aber blieb ihm zur Seite; noch wenige Tage vor der Auflösung übergab er seiner Mutter eine mit sicherer und scheinbar müheloser Sprachkunst geschmiedete Übersetzung eines Horazischen Gedichts. Nach dem letzten schweren Röcheln, im Augenblick wo der Atem stillstand geschah etwas Unfassbares: als ob eine Hand blitzschnell über die eben noch tiefbeseelten Züge, die im letzten Kampf noch leuchtenden dunkelblauen Augen hinführe und jeden Ausdruck wegwischte, dass nichts übrig war als ein bleiches ausgeleertes Wachsbild. An keinem anderen Sterbebette war je vor meinen Augen diese Wandlung eingetreten, die mir den oft gehörten Ausdruck: »der Geist entfloh« so unbezweifelbar in seiner Wahrheit vorführte: ich hatte ihn wirklich und tatsächlich entfliehen sehen, mit solcher Schnelle, wie es nur bei ihm, dem Schnellsten, geschehen konnte. Wo war er hin, dass auch nicht die blasseste Spur seines Wesens dem seelenlosen, keine Erinnerung festhaltenden Abbild eingeprägt blieb? Keinen anderen Toten sah ich so als bloße Schale daliegen. Dieser, man sah es, ließ auf der Erde nichts zurück, was ihn halten konnte, es war alles abgefallen; blitzschnell wie ein Meteor, so schien es mir, fuhr er einer neuen, höheren Aufgabe zu. Vanzetti, der danebenstand, schloss die erloschenen Augen und sicherte den Mund mit einem Gummistrang. Der Arme hatte sein Bestes verloren, aber in diesem Einsturz diente er jetzt allen zum Halt.
Ich konnte nur stehen und ins Leere staunen. Da lag nun der Mensch, den mir die Natur zum Freund hatte geben wollen, der in der Kindheit zwillingsartig mit mir verwachsen gewesen, der mir im Wollen, Fühlen, Meinen am verwandtesten war, verwandter auch als die geliebte Mutter, der bis zuletzt alle tiefen und zarten Seelenregungen mit mir gemein gehabt hatte, der einzige unter den Brüdern, dem wie mir bei einem hohen und geheimen Dichterwort der Atem stockte, der wie ich in dem Leben der Sprache einen heilig zu haltenden organischen Vorgang sah; der Mensch, der sogar die äußeren Merkmale des Seelenlebens mit mir gemein hatte, СКАЧАТЬ