Nahen wir uns jetzt, nach diesen Vorbereitungen, der Besprechung der Oper, um von ihr nachher zu ihrem Gegenbild in der griechischen Tragödie fortgehen zu können. Was wir im letzten Satze der Neunten, also auf den höchsten Gipfeln der modernen Musikentwicklung, zu beobachten hatten, daß der Wortinhalt ungehört in dem allgemeinen Klangmeere untergeht, ist nichts Vereinzeltes und Absonderliches, sondern die allgemeine und ewig gültige Norm in der Vokalmusik aller Zeit, die dem Ursprunge des lyrischen Liedes einzig gemäß ist. Der dionysisch erregte Mensch hat ebensowenig wie die orgiastische Volksmasse einen Zuhörer, dem er Etwas mitzutheilen hätte: wie ihn allerdings der epische Erzähler und überhaupt der apollinische Künstler voraussetzt. Es liegt vielmehr im Wesen der dionysischen Kunst, daß sie die Rücksicht auf den Zuhörer nicht kennt: der begeisterte Dionysusdiener wird, wie ich an einer früheren Stelle sagte, nur von Seinesgleichen verstanden. Denken wir uns aber einen Zuhörer bei jenen endemischen Ausbrüchen der dionysischen Erregung, so müßten wir ihm ein Schicksal weissagen, wie es Pentheus, der entdeckte Lauscher, erlitt: nämlich von den Mänaden zerrissen zu werden. Der Lyriker singt »wie der Vogel singt«, allein, aus innerster Nöthigung und muß verstummen, wenn ihm der Zuhörer fordernd entgegentritt. Deshalb würbe es durchaus unnatürlich sein, vom Lyriker zu verlangen, daß man auch die Textworte seines Liedes verstünde, unnatürlich, weil hier der Zuhörer fordert, der überhaupt bei dem lyrischen Erguß kein Recht beanspruchen darf. Nun frage man sich einmal aufrichtig, mit den Dichtungen der großen antiken Lyriker in der Hand, ob sie auch nur daran gedacht haben können, der umherstehenden lauschenden Volksmenge mit ihrer Bilder- und Gedankenwelt deutlich zu werden: man beantworte sich diese ernsthafte Frage, mit dem Blick auf Pindar und die äschyleischen Chorgesänge. Diese kühnsten und dunkelsten Verschlingungen des Gedankens, dieser ungestüm sich neu gebarende Bilderstrudel, dieser Orakelton des Ganzen, den wir, ohne die Ablenkung durch Musik und Orchestik, bei angespanntester Aufmerksamkeit so oft nicht durchdringen können – diese ganze Welt von Mirakeln sollte der griechischen Menge durchsichtig wie Glas, ja eine bildlich-begriffliche Interpretation der Musik gewesen sein? Und mit solchen Gedankenmysterien, wie sie Pindar enthält, hatte der wunderbare Dichter die an sich eindringlich deutliche Musik noch verdeutlichen wollen? Sollte man hier nicht zur Einsicht in Das kommen müssen, was der Lyriker ist, nämlich der künstlerische Mensch, der die Musik sich durch die Symbolik der Bilder und Affekte deuten muß, der aber dem Zuhörer Nichts mitzutheilen hat: der sogar, in völliger Entrücktheit, vergißt, wer gierig lauschend in seiner Nähe steht. Und wie der Lyriker seinen Hymnus, so singt das Volk das Volkslied, für sich, aus innerem Drange, unbekümmert, ob das Wort einem Nichtmitsingenden verständlich ist. Denken wir an unsre eignen Erfahrungen im Gebiete der höheren Kunstmusik: was verstanden wir vom Texte einer Messe Palestrina’s, einer Cantate Bach’s, eines Oratoriums Händel’s, wenn wir nicht etwa selbst mitsangen? Nur für den Mitsingenden giebt es eine Lyrik, giebt es Vokalmusik: der Zuhörer steht ihr gegenüber als einer absoluten Musik.
Nun aber beginnt die Oper, nach den deutlichsten Zeugnissen, mit der Forderung des Zuhörers, das Wort zu verstehn.
Wie? Der Zuhörer fordert? Das Wort soll verstanden werden?
*
Die Musik aber nun gar in den Dienst einer Reihe von Bildern und Begriffen zu stellen, sie als Mittel zum Zweck, zu ihrer Verstärkung und Verdeutlichung, zu verwenden – diese sonderbare Anmaßung, die im Begriff der »Oper« gefunden wird, erinnert mich an den lächerlichen Menschen, der sich mit seinen eignen Armen in die Luft zu heben versucht: was dieser Narr, und was die Oper nach jenem Begriffe versuchen, sind reine Unmöglichkeiten. Jener Opernbegriff fordert nicht etwa von der Musik einen Mißbrauch, sondern – wie ich sagte – eine Unmöglichkeit! Die Musik kann nie Mittel werden, man mag sie stoßen, schrauben, foltern: als Ton, als Trommelwirbel, auf ihren rohesten und einfachsten Stufen überwindet sie noch die Dichtung und erniedrigt sie zu ihrem Wiederschein. Die Oper als Kunstgattung nach jenem Begriff ist somit nicht sowohl Verirrung der Musik, als eine irrthümliche Vorstellung der Ästhetik. Wenn ich übrigens hiermit das Wesen der Oper für die Ästhetik rechtfertige, so bin ich natürlich weit entfernt, damit schlechte Opernmusik oder schlechte Operndichtungen rechtfertigen zu wollen. Die schlechteste Musik kann immer noch der besten Dichtung gegenüber den dionysischen Weltuntergrund bedeuten, und die schlechteste Dichtung Spiegel, Abbild und Wiederschein dieses Untergrundes sein, bei der besten Musik: so gewiß nämlich der einzelne Ton, dem Bild gegenüber, bereits dionysisch, und das einzelne Bild, sammt dem СКАЧАТЬ