Название: Die Schlucht
Автор: Иван Гончаров
Издательство: Public Domain
Жанр: Русская классика
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Tit Nikonytsch plauderte gern mit ihr über alle möglichen Dinge, die in der Welt vorgingen, über die Kriege, die gerade geführt wurden, und die Ursachen dieser Kriege; er erklärte ihr, weshalb in Rußland das Getreide so billig sei, und was geschehen würde, wenn es in größerem Umfange exportiert werden könnte. Er kannte die Genealogie aller alten Adelsgeschlechter, alle Heerführer und Minister und deren Biographie; er erzählte ihr, daß das Niveau der Ozeane verschiedene Höhe habe, unterrichtete sie über alle neuen Erfindungen, die in England oder Frankreich gemacht wurden, und entschied darüber, ob sie der Menschheit Nutzen bringen würden oder nicht.
Er machte Tatjana Markowna auch Mitteilung davon, daß der Zucker in Nischni billiger geworden sei, damit die Kaufleute in der Stadt sie nicht übervorteilten, oder daß die Teepreise bald steigen würden, damit sie sich rechtzeitig versehen könnte.
Hatte sie auf dem Gericht etwas zu tun, dann erledigte das Tit Nikonytsch, brachte alles ins gleiche, deckte zuweilen sogar eine Ausgabe aus seiner Tasche, und wenn sie dann zufällig dahinterkam, wusch sie ihm gehörig den Kopf, worauf er ganz verwirrt sie um Verzeihung bat, seinen Kratzfuß machte und ihr die Hand küßte.
Sie lebte in ständiger Opposition gegen die lokalen Behörden: legte man ihr eine Einquartierung auf den Hof, wurde eine Ausbesserung der Wege verlangt oder eine Steuer eingetrieben, so schalt sie über behördliche Willkür, stritt sich herum, verweigerte die Zahlung und wollte vom »Gemeinwohl« und sonstigen Dingen dieser Art nichts wissen. Mag doch jeder für sich selbst sorgen, pflegte sie zu sagen und hielt mit ihrer Abneigung gegen die Polizei nicht hinterm Berge. Ganz besonders hatte es ihr ein Polizeimeister angetan, den sie geradezu einen Räuber nannte. Tit Nikonytsch hatte es mehrmals versucht, ihr den Begriff des »Gemeinwohls« klarzumachen, doch mußte er sich schließlich darauf beschränken, zwischen ihr und der Polizeibehörde den Frieden wiederherzustellen.
In dieses patriarchalisch stille Nest nun war der junge Raiski jetzt hineingeraten. Er, der bisher ein so verwaistes Leben geführt hatte, besaß nun mit einemmal eine Häuslichkeit, eine Mutter und Schwestern, und in Tit Nikonytsch das Ideal eines guten Onkels.
Zehntes Kapitel
Die Großtante war eben dabei, ihm auseinanderzusetzen, welche Getreidearten sie vorwiegend auf dem Gute anbaue, und welche Produkte augenblicklich die marktfähigsten wären, als der Neffe ganz ungeniert zu gähnen begann.
»So hör’ doch zu: das ist in alles dein Besitz, ich bin sozusagen nur dein Verwalter!« . . . sagte sie.
Aber er gähnte nur wieder, sah den Vögeln nach, die durch den Hain flogen, verfolgte den Flug der Libellen, pflückte ein paar Kornblumen, schaute den Bauern bei der Arbeit zu, lauschte auf die ländliche Stille und ließ den Blick durch den blauen Himmelsraum schweifen, der hier so unendlich weit schien.
Die Großtante war mit den Bauern über irgend etwas ins Gespräch gekommen, und er benutzte die Gelegenheit, um in den Park zu laufen und den Abhang der Schlucht hinunterzuklettern. Durch das dichte Gestrüpp drang er bis dicht an die Wolga vor und stand stumm und starr vor der grandiosen Landschaft, die sich hier seinem Blick enthüllte.
»Nein, er ist noch zu jung, noch das reine Kind,« dachte die Tante, die ihm mit den Augen gefolgt war. »Er hat noch keinen Sinn für das Praktische. Da, wie er läuft! Was wird nur aus ihm werden?«
Die Wolga wälzte ihre Fluten zwischen den Ufern daher, an denen sich die mit Buschwerk bewachsenen Inseln und Sandbänke hinzogen. In der Ferne schimmerten die gelben Sandberge, deren Gipfel von dunklem Wald besäumt waren; da und dort glänzte ein Segel, die Möwen schwebten in gleichmäßigem Fluge über dem Wasser, netzten ihre Brust darin und stiegen in kühnen Bogenlinien wieder in die Höhe, während hoch über den Gärten langsam ein Weih dahinzog.
Doch Boris sah nicht mehr das Bild, das sich da vor ihm entrollte. Sein Auge war ganz nach innen gewandt, wo sich Zug um Zug das Gemälde da draußen in seiner Vorstellung widerspiegelte; er kontrollierte, ob auf diesem »inneren« Gemälde die Berge ebenso erschienen wie dort drüben in der Wirklichkeit, ob jenes Bauernhäuschen dort, aus dem soeben der Rauch aufstieg, sich darin wiederfand, und er konstatierte, daß auch die Sandbänke und die schimmernden weißen Segel nicht darin fehlten.
Lange stand er da, mit geschlossenen Augen, und versetzte sich in seine Kindheit zurück; er erinnerte sich, daß hier die Mutter mit ihm zu sitzen pflegte, er rief sich ihr Gesicht ins Gedächtnis zurück und sah ihre träumerischen Augen, die so seltsam glänzten, wenn sie das Landschaftsbild da vor sich schauten . . .
Er trat ganz still wieder den Heimweg an, kletterte langsam den Schluchtrand hinauf und trug das Bild, das er eben geschaut, in seinem Innern mit fort, wie einen erworbenen Besitz.
An die Schlucht knüpfte sich die Erinnerung an ein trauriges Begebnis, das noch immer in Malinowka und der ganzen Umgegend nicht vergessen war. Dort in der Tiefe, mitten im Gebüsch, hatte zur Zeit, als Raiskis Eltern noch lebten, ein eifersüchtiger Gatte – ein Schneider aus der Stadt – seine ungetreue Gattin samt ihrem Liebhaber getötet und darauf sich selbst den Hals durchschnitten. Den Selbstmörder hatte man gleich an der Stelle verscharrt, wo das Verbrechen begangen worden war.
Ganz Malinowka, die ganze Vorstadt, das Haus der Raiskis und auch die Stadt selbst hatten damals unter dem Eindruck des Schreckens gestanden, den die blutige Untat hervorgerufen. Im Volke war, wie stets in solchen Fällen, das Gerücht entstanden, daß der Selbstmörder in einem weißen Gewande im Walde umherirre, zuweilen den Abhang emporklettere, um in die Wohnungen der Menschen hineinzuschauen, und wieder verschwinde. Aus abergläubischer Furcht hatte man jenen Teil des Parks, der sich auf dem Berge nach der Schlucht hinzog und durch einen Zaun von dem Tannenwald und den wilden Rosenhecken abgetrennt war, gänzlich vernachlässigt. Niemand vom Hofgesinde wagte es fortan, diesen Abhang hinunterzuklettern; die Bauern von Malinowka wie die Bewohner der Vorstadt umgingen ihn in weitem Bogen und zogen es vor, an anderen Stellen zur Wolga hinabzusteigen, selbst wenn dort der Abstieg steiler und gefahrvoller war. Der Zaun, der einst den Park vom Walde getrennt hatte, war längst verfallen und verschwunden. Die Parkbäume standen mit den Tannen, den Heckenrosen und den Geißblattsträuchern bunt durcheinander; eine wahre Wildnis war hier, wo alle Pflege aufgehört hatte, nach und nach entstanden, und mitten darin erhob sich ein vergessener und vernachlässigter, halb zerfallener Pavillon. Raiskis Vater hatte sogar im oberen Teil des Parks einen Graben ziehen lassen, der fortan die Grenze des Parks bilden sollte.
Raiski hatte sich, als er in die Schlucht hinabstieg, jenes blutigen Vorfalls erinnert, der sich dort unten in den Büschen zugetragen. Ein leichter Schauer war ihm dabei über den Rücken gerieselt. Er stellte sich lebhaft die ganze Szene vor, wie der eifersüchtige Gatte, zitternd vor Erregung, durch die Büsche schlich, wie er sich auf den Nebenbuhler stürzte und ihn mit dem Messer durchbohrte, wie dann die schuldige Gattin ihm zu Füßen stürzte und ihn um Verzeihung anflehte. Er aber kniete wutschäumend auf ihr und stach auf sie los, und als dann die beiden Leichen blutüberströmt dalagen, schnitt er sich selbst die Kehle durch.
Raiski erbebte vor Entsetzen, ganz erregt und finster kehrte er von der unheimlichen Stätte ins Hans zurück. Doch immer von neuem zog es ihn nach dieser Wildnis, in das geheimnisvolle Dunkel dort unten am Fuße des Abhangs, der einen so herrlichen Ausblick nach der Wolga und ihren beiden Ufern gewährte.
Boris lebte ganz in diesem Landschaftsbilde; sein Gesicht war wie in träumerisches Sinnen getaucht, und es war ihm so wohl ums Herz, wenn er so dastand – sein ganzes Leben lang hätte er dort stehen können.
Er schloß die Augen und suchte klar zu erfassen, worüber er eigentlich sann, doch gelang ihm das nicht; die Gedanken kamen und gingen, wie die Wellen des Flusses: es war ihm, als ob eine Stimme in ihm klänge und sänge, in seinem Kopfe aber СКАЧАТЬ