Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке. Александр Иличевский
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СКАЧАТЬ sondern als Typen. Ein Bettler sortiert die Passanten beispielsweise nicht nach Gesichtern, sondern nach Kategorien wie Großzügigkeit, Geiz, Mitgefühl oder Gleichgültigkeit …«

      VIII

      Der südliche Arm von Wadjas Biografie ist traurig. Ihmzufolge wurde er in einem Dorf bei Astrachan, in der Strelezkojer Steppe geboren. Stromleitungen summten über den menschenleeren Straßen, Häuser blickten blind durch verschlossene Fensterläden; gleich hinter dem Dorfrand wellten sich schwere Sandmassen, entrollte die Achtuba ihr Flussbett. Die Ufergebiete waren vom staubigen, harten Teppich der Schafweiden bedeckt, hier und dort knabberten einzelne Schafe, mal auch ganze Herden das unter ihren Lippen kaum nachgewachsene Gras, kräuselten sich kleine graue Inseln aus Kameldisteln. Kinder trieben mit Stäben verrostete Metallreifen am Ufer entlang, in den Vorgärten verstaubten bucklige Büsche aus Ringelblumen, Bögen der Sonnenhüte und rankende Weinreben. An einer Ausgrabungsstelle schwitzten Archäologen. Sie legten eine Zigarettenpause ein und hörten eine Lerche singen, die im fürs Auge unerträglichen Zenit Purzelbäume schlug[22].

      Zum Wechsel der Jahreszeiten stimmte der Wind seine Leier an. Er trieb meterbreite Wogen stromaufwärts in den Wolganebenarm Aschuluk. Jenseits der Landstraße dampften orange Sandseen. Der Fährschlepper steckte manchmal eine Stunde lang im Flusslauf fest. Der Steuermann riss den Starthebel hin und her, hielt das Steuerrad mit dem Knie, rauchte gut und gerne eine halbe Schachtel weg, während die Maschine sich zentimeterweise durch die reißende Strömung arbeitete.

      Im Mai kamen die Heringe von der Küste des Kaspischen Meers in den Aschuluk. Uferrand, Wasserkastanien, Riedgras waren voll ihrer schäumenden Milch. In Fässern und Plastiksäcken für Superphosphat-Dünger brachte Wadja den leicht gesalzenen Fettfisch nach Wolgograd, Tambow und Mitschurinsk.

      Wie ein vom Orkan der Umbruchszeiten gejagtes Sandkorn stellte er sich eines Tages mit einem Kumpel an die Landstraße, und sie stoppten den Sattelzug eines Exportunternehmens, der mit einer Ladung von Chochloma-Souvenirs* in den Iran unterwegs war.

      In Derbent sprangen sie ab. Zuerst verlegten sie auf einem Friedhof »Bruchstein«: verkleideten die Einfriedungen reicher Grabmäler, die Friedhofsmauer, den Sockel der Friedhofswerkstatt, wo schwarzer Marmor geschnitten, geätzt und geschliffen wurde. Den Bruch holten sie vom Meer, wo eine uralte Mauer ins Wasser führte. Bis zur Hüfte oder Brust in der Brandung, trugen sie diese ab. Der Seegang, mächtig und zärtlich, warf sie immer wieder um, während sie die im Wasser leichten Steine hinaustrugen; erst kurz vor dem Ufer nahmen sie sie hoch und klammerten sich daran fest, wenn die Wellen aufprallten, in denen der Kies zischte, pochte und klapperte.

      Danach nahm der Friedhofsdirektor sie mit auf seine Datscha in die Berge – zu Sauermilch und hoher, eisiger Morgendämmerung, zu blauen Stoffbahnen aus Schnee, zu unersättlichem Atem: Sie umzäunten die Schafweide mit Pflöcken, schütteten den Kellerboden mit Estrich aus, gruben einen zweiten Keller mit einem unterirdischen Gang zur Hinterseite des Gemüsegartens. Am Ende der Arbeitssaison – sie wollten sich schon nach Hause aufmachen – setzte man sie eines Nachts auf Esel, stellte ihnen für zwei Tage Arbeit einen Batzen Geld in Aussicht[23] und brachte sie weg.

      Und zwar tief in die Berge. Sie kamen erst am Nachmittag des übernächsten Tages an und hatten vom Höhenunterschied verlegte Ohren. So landeten sie in der Sklaverei, in einem gottverlassenen Aul.

      Sie schliefen in der Scheune bei den Ziegen. Tagsüber bauten sie das Haus um, es war groß, plump, hatte fast keine Fenster. Sie setzten Anbauten dran, deckten das Dach ab, zogen den Dachfirst höher, legten Dachziegel, errichteten einen Bogengang ums Haus und bauten darauf eine überdachte Galerie …

      Bei Sonnenuntergang, wenn ein Stück die Straße hinunter der Ruf des Muezzins verklang, legten sie die Arbeit nieder, setzten sich und warteten, dass man ihnen das Essen brachte. Ihr neuer Chef – ein unrasierter, einäugiger Alter in Pelzmütze und Jackett, an dem drei Ordensbänder hingen – sprach nie mit ihnen, er brachte nur die Baupläne: säuberlich gezeichnet, auf Millimeterpapier, mit grüner Mine.

      Manchmal, wenn der Alte mit strengem Blick die aufgefächerten Baupläne durchsah, verglich er sie verstohlen mit einem Kinderbuch, in dem Wadja einmal einen Blick auf ein blaues Schloss erhaschte. Auf einer ganzen Doppelseite war dort in allen Einzelheiten ein riesiges Märchenschloss gemalt, ein wildes Durcheinander aus kleinen Hängebrücken, Türmchen, Mansarden, Mezzaninen, Flügeln und Plätzen, auf denen kristallene Orangerien standen, sich Beete blähten und geschnitzte Taubenschläge weiß leuchteten … Winzige Menschlein mit spitzen Mützchen schlenderten auf den kleinen Brücken auf und ab, jäteten Unkraut in Gemüsebeeten, hüteten kugelrunde Schafe mit sechs Beinen, fischten, hackten Feldraine, flochten Zäune …

      Wadja verstand nichts von technischen Zeichnungen und verließ sich auf seinen Kumpel. Serjoga war auf der Baufachschule gewesen, hatte sogar Prüfungen gemacht. Aber auch er verstand nicht viel von Plänen, und so kam es, dass sie einfach ihrer Fantasie freien Lauf ließen und so bauten, wie es sich ergab.

      Der Alte hasste sie, behandelte sie aber leidlich. Fast ein Gnom, dürr, mit Hakennase und rotem, sehnigen Hals; die Mundwinkel zog er bösartig bis zu den Ohren, wobei zwei Reihen Goldzähne zum Vorschein kamen[24]. Die Tage verbrachte er bei seinen Bienenstöcken. Abends, auf dem Rückweg, mit einer Schüssel voll Wabenhonig, in eine Wespenwolke gehüllt, lief er an der Baustelle vorbei und krächzte beim Anblick seiner Arbeiter fürchterlich, plärrte etwas und spuckte aus. Nachsichtig war er zu ihnen vor allem aus Vernunftgründen: damit sie sich nicht zu Tode schufteten, damit Wadjas Eiterblase am Finger schneller heilte …

      Einmal kam die Nachbarin zu ihnen, eine Frau mit unglaublich vielen Kindern. Sie war zu Tode erschöpft und sammelte in einem fort ihre Bengel von der Straße auf. Es hatte immer so ausgesehen, als würde sie die Russen nicht bemerken. Doch einmal kam sie mit einem Backblech voller Maisgrütze in den Hof. Sie stellte es vor sie hin, richtete sich auf und sagte: »Gestern war ich in der Stadt, und da hatte ich den ganzen Tag solche Sehnsucht nach meinen Kindern, hab immer gedacht, wie es ihnen ohne mich wohl geht, was sie wohl essen. Und da habe ich beschlossen, euch das hier zu bringen. Ihr seid doch hier auch mutterlose Kinder.«

      Der Alte sah es und sagte nichts.

      Seiner Enkelin, einem hübschen Mädchen von etwa zehn Jahren, machte es Spaß, die Gefangenen zu beobachten. Sie schenkte ihnen mal einen Fetzen Mull, mal eine Papirossa, die sie irgendwo gemopst hatte, mal ein paar Brocken unreifer Honigwaben mit säuerlichem Bienenbrot, mal sogar ein ganzes Zeitungsblatt voller Käsekrümel. Einmal, zum Ersten Mai, brachte sie ihnen eine ihrer Spielsachen – ein kleines Strohpferdchen mit einer roten Schleife um den Hals …

      Unterm Dach hatte der Alte einen Käfig mit zwei Falken, an deren Füßen Glöckchen hingen. Einmal am Tag holte er sich ein Huhn vom Hof, erschlug es kreuzweise mit zwei Axthieben, legte es in eine Schüssel und stieg die Treppe zum Käfig hinauf. Er stellte den Vögeln die Schüssel hin, wartete, bis sie sich sattgefressen hatten, legte Flaum, Federn und Knochen zurück in die Schüssel und zwängte die Falken einen nach dem andern durch das kleine Türchen in die Freiheit. Die Falken flogen eine Weile herum, saßen kurz auf dem Dach oder auf dem Zaun, dann kamen sie zurück und wollten Nachschlag …

      Die Frau des Alten brüllte die Gefangenen jeden Morgen an: von wegen, sie würden ihre Ziegen melken! Sie widersprachen ihr nicht. In Wirklichkeit waren es die Schäferhunde, zwei gewaltige Biester, die die Ziegen aussaugten. Der eine biss der Ziege in den Hals, und während sie weinte, bearbeitete der andere das pralle Euter, das wie eine Glocke an ihr baumelte.

      Der Sohn des Alten war gebildet, sprach gut Russisch. Die Enkelin des Alten hatte erzählt, ihr Papa sei Leiter des Kulturhauses in einem der Dörfer unten. Wenn er seinen Vater besuchen kam, schimpfte er auf die СКАЧАТЬ



<p>22</p>

Purzelbäume schlagen – кувыркаться

<p>23</p>

j-m etwas (Akk) in Aussicht stellen – обещать кому-либо что-либо, обнадёживать кого-либо чем-либо

<p>24</p>

zum Vorschein kommen – появиться, обнаружиться