Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке. Александр Иличевский
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СКАЧАТЬ sitzt er dann hier? Wie kann das sein?«

      Wadja zuckt mit den Schultern[20].

      »Wir saufen seit fünf Tagen. Der kommt gar nicht zu sich.«

      »Moment mal. Ist das derselbe Koljanytsch, dem die Frau den Kopf abgesäbelt hat?«

      Wadja lächelt erst zufrieden, dann lässt das Lächeln nach, sein Gesicht wird strenger.

      »Ganz genau. Eben der. Hier hat er die Narbe.« Wadja fährt sich mit der Handkante quer über den Kehlkopf.

      Der junge Mann steht auf und mustert Koljanytsch. Der döst, sein Kopf ist auf die Brust gesunken. Unter seinem Kinn schaut tatsächlich, gleich einer dicken Kordel, eine scheußliche blaurote Narbe hervor. Der junge Mann setzt sich wieder hin, steckt sich hastig eine Zigarette an und hält Wadja das Päckchen hin.

      Von zwei Bänken, die auf die Wiese gerückt und deren Sitzflächen zusammengeschoben sind, erhebt sich eine Frau im Wolltuch von ihren Plastiktüten. Sie blickt sich blinzelnd um.

      Wadja nimmt ein paar kleine Schlucke, versteckt seine Flasche unter der Jacke, zieht eine Zigarette aus dem Päckchen und beschmutzt dabei mit den Fingern die knochenmarkweißen Filter daneben. Der Junge steckt sein Buch in den Rucksack. Er wartet auf seine Freunde, die in der Nähe wohnen. Sie wollen heute weit raus ins Moskauer Umland, Pilze sammeln und im Wald schlafen.

      »Warum trinkt ihr denn die ganze Zeit? Vielleicht solltet ihr das besser lassen?«, fragt er Wadja, allen Mut zusammennehmend.

      Die Frau hinter der Bank spuckt sich auf den Handrücken, reibt sich die Augen. Greift nach einer Plastikflasche. Gießt sich etwas auf die Hand, reibt noch mal.

      »Letzten Frühling, mein Freundchen, April war’s, da ist hier was passiert. Ich erzähl ganz ehrlich, wie’s war.«

      Wadja holt einen Kamm raus, drückt sich mit einer Hand die Haare platt, kämmt sich, steckt ihn wieder ein, schaut sich um, nickt dem Jungen zu, holt tief Luft und fängt an zu erzählen.

      »Wir haben damals ganz schön gesoffen. Ich, Pantja und Berkino, ein irrer Typ, der zu der Zeit wohl gerade gut bei Kasse war. Na, wir trinken also ungefähr den fünften Tag. Ich schau so vor mich hin – sitze hier so wie mit dir jetzt … Ja. Auch Koljanytsch saß dabei. Bloß, dass er damals geschlafen hat.«

      (Er haut Koljanytsch in den Nacken. Koljanytsch hebt ruckartig seinen abwesenden Blick auf den Studenten. Brummt, nickt. Steckt das Geld unters Hemd, die restlichen Münzen rutschen ihm direkt wieder unten aus dem Hemd raus vor die Füße.)

      »Es war Abend, die Glocken hatten schon geläutet, Leute gehen und gehen, fast alle sind schon weg. Und ich schau nur so – da senkt sich von dort, von da oben ein schwaches Licht herab … Die Muttergottes. Sie steht vor mir. Ich bin glatt erstarrt. Ganz weiß ist sie. Ich kann mich nicht rühren. Arme und Beine gelähmt. In der Brust ein Brennen. Ganz streng redet sie mit mir. Ist ja nun mal die Muttergottes … ›Jesus Christus schickt mich. Er will dich ermahnen: Wenn du nicht aufhörst zu trinken, wirst du im Februar sterben. Kapiert?‹«

      An dieser Stelle runzelt Wadja die Stirn, kleine Tränen kullern ihm aus den Augen, er winkt ab, verzieht das Gesicht. Dann reißt er die Augen auf und wischt sich mit der Faust über die Wangen.

      »Da hab ich bitterlich geweint, völlig kraftlos war ich, im Herzen schwach … Hab eine Weile geweint, mich dann vor sie hingekniet und gesagt: ›Vergib mir, Muttergottes‹.«

      Wadja sinkt auf ein Knie und bekreuzigt sich.

      »Vergib meiner sündigen Seele, nur richte doch Jesus bitte aus … Ich werde bestimmt nicht mit dem Trinken aufhören. Das ist mir ganz und gar unmöglich. Richte ihm das bitte aus, sei so gut.«

      Der junge Mann sitzt mit offenem Mund da. Die Freunde stehen jetzt auf der anderen Straßenseite und warten auf Grün. Ein Auto nach dem anderen fährt um die Ecke. Der Junge ist völlig in die Geschichte versunken.

      »Und dann ist sie verschwunden?«

      »Auf und davon. Zum Teich ist sie gelaufen, nehm ich mal an, zum Ufer runter. Meine Beine waren wie gelähmt. So saß ich dann da, bis es dunkel war, bis Nadjucha mich fortgezerrt hat.«

      »Was heißt, sie ist gelaufen? Ist sie nicht … aufgefahren?« Der Junge wiegt skeptisch den Kopf.

      »Gelaufen ist sie, gelaufen … die Himmlische …« Wadja winkt ab und reibt sich das Auge trocken.

      Der junge Mann zählt sorgfältig im Stillen die Monate durch und murmelt:

      »Dezember …«

      Seine Freunde rufen. Er greift sich den Rucksack und stürzt davon.

      VII

      Wadja kämmt sich gern. Während Nadja sich wäscht und mit dem Finger die Zähne abreibt (sie macht das ganz vorsichtig und verzieht dann plötzlich das Gesicht – der obere Eckzahn tut weh), sitzt er mit überschlagenen Beinen und ist mit einem Aluminiumkamm zugange, dem zwei Zinken fehlen. Lange, sorgfältig streicht er die dichten schwarzen Wellen nach oben und zur Seite, drückt sie mit der Handfläche an, neigt den Kopf, betrachtet etwas in der Puderdose. Dann hält er die Zinken gegen das Licht, pustet geräuschvoll die Schuppen weg, zerquetscht bedächtig und geschickt mit dem Fingernagel eine losflitzende Laus, die wie eine winzige Schildkröte aussieht. Dann steckt er sich eine Zigarette an. Pustet den Rauch aus dem Mundwinkel zur Stirn hoch, kneift die Augen zusammen, mal korrigiert er mit einer Feile den etwa streichholzlangen Nagel am kleinen Finger*, mal untersucht er pingelig den Kamm, klopft ihn aus, hält ihn sich längs vor die Augen, ob er auch nicht verbogen ist. Und kämmt sich nach kurzer Überlegung damit den Bart.

      Überhaupt ist Wadja eine prächtige Erscheinung. Dadurch ist er zwar seiner Umgebung ausgeliefert, aber gleichzeitig auch geschätzt, je nach Situation. Und für die hat Wadja ein genaues Gespür und kann sie in eine für ihn vorteilhafte Richtung lenken. In den östlichen Kampfkünsten gibt es Techniken, bei denen man sich die Energie des gegnerischen Angriffs zunutze macht. Doch wenn die Realität versteinert ist, wenn sie durch nichts zu einem Angriff provoziert wird, dann hat ein schwacher, unansehnlicher Körper der Welt nichts entgegenzusetzen – und erstickt unter der starren, ihn langsam überrollenden Realität.

      Wadjas Körper ist klein, drahtig und gekrönt von einem überproportional großen Kopf, der mehr als die halbe Schulterbreite einnimmt. Seine prächtige Mähne trägt er gut frisiert, und mit seinen Zügen, den ausdrucksstarken Winkeln der Nasenflügel, dem breiten Mund und dem besonderen Lächeln, das immer lebhaft mit seinen Augen zusammenspielt, ähnelt er einem berühmten Menschen, dessen Gesicht absolut jeder kennt; ohne dass man allerdings wüsste, wer es ist. Dabei ist die Ähnlichkeit frappierend, viele sind irritiert: von dem offenen Rätsel seiner Erscheinung, das niemand auf die Schnelle[21] zu lösen vermag.

      Erst Koroljow sollte später Wadjas geheimnisvolle Ähnlichkeit enträtseln. Die Entdeckung verblüffte ihn keineswegs, aber die Welt erschien ihm mit einem Mal durchschaubar. Wunder erstaunten Koroljow weniger als die schlichte Realität, denn er betrachtete das Wundersame als den Wesenskern der Welt, und darüber erstaunt zu sein, wäre ein Zeichen fehlenden Respekts …

      Ebensowenig hatte er seinerzeit gestaunt, als er in der Metro einem Mann begegnete, der aussah wie Joseph Brodsky auf Fotos aus den 1960er Jahren. »Wahrscheinlich sein Sohn«, dachte sich Koroljow damals. »Oder doch nicht, sondern einfach nur einer, der ihm sehr ähnlich sieht. Ist ja auch egal. Gesichter sind, СКАЧАТЬ



<p>20</p>

mit den Schultern zucken – пожать плечами

<p>21</p>

auf die Schnelle (разг.) – по-быстрому, на скорую руку