Название: Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке
Автор: Эрих Мария Ремарк
Издательство: КАРО
Жанр: Зарубежная классика
Серия: Moderne Prosa
isbn: 978-5-9925-0650-1
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„Es tut mir leid, dass es bei Ihnen noch nicht soweit ist“, sagte der Russe höflich.
„Sie hatten den Vorrang“, erwiderte Steiner. „Sie waren die ersten. Sie hatten das große Mitleid der Welt. Wir haben nur noch das kleine. Man bedauert uns; aber wir sind lästig und unerwünscht.“
Der Russe hob die Schultern. Dann reichte er die Flasche dem letzten Mann in der Zelle, der bisher schweigend dagesessen hatte. „Bitte, nehmen Sie doch auch einen Schluck.“
„Danke“, sagte der Mann ablehnend. „Ich gehöre nicht zu Ihnen.“
Alle sahen ihn an.
„Ich besitze einen gültigen Pass, ein Vaterland. Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis.“
Alle schwiegen. „Verzeihen Sie die Frage“, sagte der Russe nach einer Weile zögernd, „weshalb sind Sie denn dann hier?“
„Wegen meines Berufes“, erwiderte der Mann hochmütig. „Ich bin kein windiger Flüchtling ohne Papiere. Ich bin ein anständiger Taschendieb und Falschspieler mit vollem Bürgerrecht.“
Mittags gab es dünne Bohnensuppe ohne Bohnen. Abends dasselbe, nur hieß es diesmal Kaffee, und es gab ein Stück Brot dazu. Um sieben Uhr klapperte die Tür. Der Russe wurde abgeholt, wie er es vorausgesagt hatte. Er verabschiedete sich wie von alten Bekannten. „Ich werde in vierzehn Tagen ins Café Sperler schauen“, sagte er zu Steiner. „Vielleicht sind Sie dann schon dort und ich weiß schon etwas. Auf Wiedersehen!“
Um acht Uhr war der Vollbürger und Falschspieler reif für den Anschluss. Er holte eine Schachtel Zigaretten hervor und ließ sie herumgehen. Alle rauchten. Die Zelle bekam durch die Dämmerung und die glühenden Zigaretten fast etwas Heimatliches. Der Taschendieb erzählte, dass man nur nachforsche, ob er im letzten halben Jahr einen Coup[18] gemacht habe. Er glaube nicht, dass man etwas fände. Dann schlug er vor, ein Spiel zu machen und zauberte aus seinem Jackett ein Paket Karten.
Es war dunkel geworden, und das elektrische Licht wurde nicht angezündet. Der Falschspieler war darauf vorbereitet. Er zauberte noch einmal – eine Kerze und Streichhölzer. Die Kerze wurde auf einen Mauervorsprung geklebt. Sie gab ein mattes, flakkerndes Licht.
Der Pole, das Poulet und Steiner rückten heran. „Spielen ohne Geld, nicht wahr?“ sagte das Poulet.
„Selbstverständlich.“ Der Falschspieler lächelte.
„Spielst du nicht mit?“ fragte Steiner Kern.
„Ich kann nicht Karten spielen.“
„Musst du lernen, Baby. Was willst du sonst abends machen?“
„Morgen. Heute nicht.“
Steiner drehte sich um. Das schwache Licht grub tiefe Furchen in sein Gesicht. „Ist was los mit dir?“
Kern schüttelte den Kopf. „Nein. Nur etwas müde. Lege mich auf die Pritsche da.“
Der Falschspieler mischte bereits die Karten. Er hatte eine knatternde, elegante Manier, sie ineinanderschießen zu lassen.
„Wer gibt?“ fragte das Poulet.
Der Vollbürger reichte die Karten herum. Der Pole zog eine Neun, das Poulet eine Dame, Steiner und der Falschspieler jeder ein As.
Der Falschspieler sah kurz auf. „Stechen.“
Er zog. Wieder ein As. Er lächelte und gab das Paket an Steiner. Der warf nachlässig die unterste Karte des Spiels auf – das Kreuz-As.
„So ein Zufall!“ Das Poulet lachte.
Der Falschspieler lachte nicht. „Woher kennen Sie den Trick?“ fragte er Steiner betroffen. „Sind Sie aus der Branche?“
„Nein, Amateur. Da freut einen die Anerkennung des Fachmannes doppelt.“
„Es ist nicht das!“ Der Falschspieler sah ihn an. „Der Trick stammt nämlich von mir.“
„Ach so!“ Steiner zerdrückte seine Zigarette. „Ich habe ihn in Budapest gelernt. Im Gefängnis vor meiner Ausweisung. Von einem gewissen Katscher.“
„Katscher! Jetzt verstehe ich!“ Der Taschendieb atmete auf. „Daher also! Katscher ist ein Schüler von mir. Sie haben das gut gelernt.“
„Ja“, sagte Steiner, „man lernt allerhand, wenn man unterwegs ist.“
Der Falschspieler übergab ihm das Spiel Karten und blickte prüfend in die Kerzenflamme. „Das Licht ist schlecht – aber wir spielen natürlich nur zum Vergnügen, meine Herren, nicht wahr? Ehrlich…“
Kern legte sich auf die Pritsche und schloss die Augen. Er war voll von einer nebelhaften, grauen Traurigkeit. Seit dem Verhör morgens hatte er ununterbrochen an seine Eltern denken müssen; – seit langer Zeit zum erstenmal wieder. Er sah seinen Vater vor sich, als er von der Polizei zurückkam. Ein Konkurrent hatte ihn wegen staatsgefährlicher Reden bei der Gestapo denunziert, um sein kleines Laboratorium für medizinische Seifen, Parfüme und Toilettewasser zu ruinieren und es dann für nichts zu kaufen. Der Plan gelang wie tausend andere um diese Zeit. Kerns Vater kam völlig gebrochen nach sechs Wochen Haft zurück. Er sprach nie darüber; aber er verkaufte seine Fabrik für einen lächerlichen Preis an den Konkurrenten. Bald darauf kam die Ausweisung, und damit begann die Flucht ohne Ende. Von Dresden nach Prag; von Prag nach Brünn; von da nachts über die Grenze nach Österreich – am nächsten Tag durch die Polizei zurück in die Tschechei – heimlich ein paar Tage später wieder über die Grenze nach Wien – die Mutter mit einem nachts gebrochenen Arm, notdürftig im Walde mit zwei Aststücken geschient – von Wien nach Ungarn; ein paar Wochen bei Verwandten der Mutter – dann wieder Polizei; der Abschied von der Mutter, die bleiben konnte, weil sie ungarischer Herkunft war – wieder die Grenze; wieder Wien – das erbärmliche Hausieren mit Seife, Toilettewasser, Hosenträgern und Schnürsenkeln – die ewige Angst, angezeigt oder erwischt zu werden – der Abend, an dem der Vater nicht wiederkam – die Monate allein, von einem Versteck zum andern…
Kern drehte sich um. Dabei stieß er jemand an. Er öffnete die Augen. Auf der Pritsche neben ihm lag wie ein schwarzes Bündel in der Dunkelheit der letzte Bewohner der Zelle, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, der sich den ganzen Tag noch kaum gerührt hatte.
„Entschuldigung“, sagte Kern. „Ich habe Sie nicht gesehen…“
Der Mann antwortete nicht. Kern bemerkte, dass er die Augen offen hatte. Er kannte die Art von Zuständen; er hatte sie oft unterwegs gesehen. Es war am besten, den Mann in Ruhe zu lassen.
„Verdammt!“ schrie plötzlich in der Ecke der Kartenspieler das Poulet auf. „Ich Ochse! Ich unerhörter Ochse!“
„Wieso?“ fragte Steiner ruhig. „Die Herzdame war genau richtig!“
„Das meine ich ja nicht! Aber dieser Russe hätte mir doch mein Poulet schicken können! Herrgott, ich dämlicher Ochse! Ich einfach wahnsinniger Ochse!“
Er sah sich um, als ob die Welt untergegangen wäre.
Kern merkte auf einmal, dass er lachte. Er wollte nicht lachen. СКАЧАТЬ
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Coup, der – eine riskante, überraschende, oft illegale Handlung