Nach der Wahrnehmung folgt das Denken über das Wahrgenommene und schließlich, entsprechend den Gedanken, die Handlung. Das Ökonomisieren unserer Zeit („Zeit ist Geld“) bringt es mit sich, danach zu trachten, die Arbeitskraft voll auszulasten und nach Möglichkeit auch aus der Freizeit das Optimale herauszuholen. Immer mehr, immer besser, immer schneller, immer billiger, immer effektiver, lautet die Devise. Die Folge ist eine beständige Betriebsamkeit. Kaum hat der Mensch etwas wahrgenommen, schon ist er im Denken, Urteilen, Analysieren, Kalkulieren, Planen und in der Aktion. Er nimmt nur noch kurz, flüchtig und oberflächlich wahr – auch sich selbst. Doch ist es die Wahrnehmung, die ihm den Zugang zu Gott öffnet. Die Meditation kann als eine Schule der Wahrnehmung bezeichnet werden, in der das Denken und das Tun nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.
Auf dem Weg zu Gott muss man nicht einen scharfen Verstand und große Leistungen vorweisen. Jesus preist den Vater, der sich nicht den Weisen und Klugen offenbart hat, sondern den Unmündigen (Mt 11,25). Es sind besonders die Unmündigen, kleine Kinder, die wach und aufmerksam wahrnehmen können. Sie sind es, die empfänglich sind für die göttliche Gegenwart. Mit den Kleinen und Unmündigen setzt Jesus ein Beispiel: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“ (Mt 18,3). Er fordert den Menschen auf, nicht ausschließlich im Denken und Handeln zu leben, sondern der schlichten vorbehaltslosen Wahrnehmung Raum zu geben.
2.Ursprünge
Die Wurzeln der christlichen Meditation sind in den Anfängen des christlichen Mönchstums im 3. bis 4. Jahrhundert in der Wüste Ägyptens und Syriens zu finden. Im Kampf gegen seine Leidenschaften und Laster wiederholte der Mönch beständig einen bestimmten Vers aus der Heiligen Schrift oder ein Psalmwort. Diese Repetition sollte einer beständigen Herzensruhe („Hesychia“) und somit der Reinheit des Herzens dienen.
Der hl. Antonius der Große († 356) zählt zu den berühmtesten Wüstenvätern. Der Mönch Evagrius Ponticus († 399), ebenfalls einer der großen Meister der ägyptischen Wüste, beschreibt eine Lehre vom „reinen Gebet“, das heißt vom gedanken- und bildfreien Beten, das in das „wortlose Geheimnis Gottes“ führt (Isaak von Ninive, † ca. 700). Der Mönch entleert im Gebet den innersten Raum in sich, damit Gott selbst ihn füllen kann. Ziel des monastischen Lebens ist die Vereinigung des Geistes mit Gott.
Johannes Cassian († 435), der als großer Vermittler zwischen dem ägyptischen Mönchtum und dem Westen galt, brachte den Hesychasmus, das Gebet der Ruhe, ins Abendland. Von ihm dürfte die Weisung kommen, den Psalmvers „O Gott, komm mir zu Hilfe, Herr, eile mir zu helfen“ (Ps 70,2) als Gebetsformel stets zu wiederholen. Der Mönch sollte dadurch seine Aufmerksamkeit beständig auf Gott richten und Gott vor allem auch in Situationen der Schwäche nicht aus den Augen verlieren. Das berühmteste an Jesus Christus gerichtete Wiederholungsgebet, in dem der Jesusname aber nicht vorkommt, ist das „Kyrie eleison“ (griech. „Herr, erbarme dich“). Zu den bekanntesten Stoßgebeten zählen das Zöllnergebet: „Gott, sei mir Sünder gnädig“ (Lk 18,13) und das Gebet des Blinden am Weg: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner“ (Lk 18,38). Aus diesen Kurzgebeten leiteten sich längere Formulierungen ab, wie z. B. „Herr Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner“. Durch eine jahrhundertelange Entwicklung entstand aus diesen Gebeten und der Verehrung des Namens Jesu das „Jesusgebet“.
Dem Mönch Symeon, der Neue Theologe († 1022), wird ein Buch über die „Methode des heiligen Gebetes und der Aufmerksamkeit“ zugesprochen, in dem er klare Anweisungen über die Gebetspraxis gibt. Noch zu seinen Lebzeiten verlor das Jesusgebet jedoch an Bedeutung. Durch das Lebenszeugnis und die Schriften von Gregor der Sinaite († 1346), die schon früh, wahrscheinlich bereits während seines Lebens, in mehrere slawische Sprachen übersetzt wurden, gelangte das Jesusgebet auf dem Berg Athos wieder zu neuer Blüte. Von dort verbreitete es sich rasch.
Weltweit bekannt wurde das Jesusgebet insbesondere durch die Philokalie5 (Tugendliebe), eine Sammlung von Texten über das Jesusgebet von mehr als 30 Schriftstellern des christlichen Ostens aus dem 3. bis 15. Jahrhundert. In Russland waren und sind es besonders die „Starzen“, geistliche Lehrer und spirituelle Begleiter, die Suchende bis heute in das Jesusgebet einweihen. Im Westen sorgte das Buch „Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers“6 für eine rasche Anerkennung und Verbreitung des Jesusgebets. Hier wird beschrieben, wie ein unbekannter Christ aus Russland Mitte des 19. Jahrhunderts die Aufforderung des hl. Paulus zu unablässigem Gebet zu erfüllen sucht (1 Thess 5,17). Er bekommt dabei Hilfe und Orientierung durch einen Eremiten, der ihn in das Geheimnis des Jesusgebets einweiht. Dieser rät dem Suchenden die beständige Wiederholung des Satzes: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.“ Bei beharrlicher Wiederholung vereine sich dieser Satz mit seinem Herzschlag und seinem Atem und es beginne schließlich in ihm von selbst „ohne Unterlass“ zu beten. Bei der Schilderung der Erfahrungen des russischen Pilgers wird dem Leser deutlich, dass sich das Jesusgebet in seiner tiefen Dimension nicht durch theoretisches Wissen erschließt, sondern nur durch eine beharrliche und treue Gebetspraxis.
Die Weitergabe des Jesusgebets an die jeweils nächste Generation ist seit dem 4. Jahrhundert nicht abgebrochen. In unserer Zeit hat im deutschsprachigen Raum besonders das Buch von Franz Jalics7 zu seiner Verbreitung beigetragen. Im englischsprachigen Raum möchte ich die Benediktinermönche John Main und Laurence Freeman sowie die Trappistenmönche Thomas Keating und Thomas Merton nennen. Mit ihren Büchern haben sie vielen Menschen einen neuen Zugang zur Kontemplation eröffnet.
3.Was die Meditation trägt
Alles beginnt mit der Sehnsucht.
(Nelly Sachs)
Aufgrund eines gestressten Alltags sehnen sich heute viele Menschen nach Entspannung. Viele beginnen zu meditieren in der Erwartung, dass es ihnen guttut und sie durch eine bestimmte Technik in einen entspannten Zustand kommen. Das Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung reicht jedoch nicht aus, um auch in schwierigen Phasen der Meditation dabeizubleiben. Sucht der Mensch in erster Linie Ruhe und Entspannung, ist es nachvollziehbar, wenn er zu meditieren aufhört, falls die erhoffte Ruhe ausbleibt oder sich Schwierigkeiten zeigen.
Der tragende Grund für den meditativen Weg, der Höhen und Tiefen mit sich bringt, ist eine Sehnsucht, dem Göttlichen in seinem Leben Raum zu geben. Mit ihr beginnt der Weg, sogar dann, wenn sie nicht unmittelbar spürbar ist. Davon erzählt die Geschichte eines jungen Mannes. Als ihn ein Rabbi nach seiner Sehnsucht nach Gott fragt, wird er traurig und muss zugeben, dass er meistens so viel zu tun hat, dass die Sehnsucht im Alltag untergeht. Als er jedoch die Frage hört, ob er Sehnsucht danach hat, Sehnsucht zu haben, Gott zu lieben, hellt sich sein Gesicht wieder auf, da er dies bejahen kann. Die Geschichte endet mit der Aussage des Rabbis: „Das genügt. Du bist auf dem Weg.“ Diese Sehnsucht, und sei es die Sehnsucht nach der Sehnsucht, ist die Kraft, die bewirkt, in der Meditation dabeizubleiben, auch wenn sich Schwierigkeiten zeigen.
Die Sehnsucht nach Gott kann nur gestillt werden, wenn der Mensch bereit ist, sich selbst zu begegnen. Die großen Meister aller spirituellen Traditionen wissen um den Zusammenhang von Selbst- und Gotteserfahrung. Es sind zwei Seiten einer Medaille, die untrennbar zueinandergehören und einander vertiefen. Im Mönchtum wird der Weg zu Gott seit jeher über die Selbstbegegnung gewiesen. Stille Zeiten sind hierbei eine große Hilfe. Bereits im 4. Jahrhundert bringt der Wüstenvater Evagrius Ponticus dies kurz und bündig auf den Punkt: „Willst du Gott erkennen, lerne vorher dich selber kennen.“ Jede wahre Selbstbegegnung ist somit auch ein weiterer Schritt auf dem Weg zu Gott. Ist die Bereitschaft, sich selbst zu begegnen, jedoch nicht gegeben, СКАЧАТЬ