Название: Radetzkymarsch
Автор: Йозеф Рот
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783750207332
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Er erwachte. Frau Slama stand vor ihm, hielt ihm Stück um Stück seiner Kleidung entgegen; er begann, sich hastig anzuziehen. Sie lief in den Salon, brachte ihm Handschuhe und Mütze. Sie rückte an seinem Rock, er fühlte ihre ständigen Blicke auf seinem Gesicht, aber er vermied es, sie anzuschauen. Er schlug die Absätze aneinander, daß es knallte, drückte der Frau die Hand, sah aber hartnäckig auf ihre rechte Schulter und ging.
Von einem Turm schlug es sieben. Die Sonne näherte sich den Hügeln, die jetzt blau waren wie der Himmel und von Wolken kaum zu unterscheiden. Von den Bäumen am Wegrand strömte süßer Duft. Der Abendwind kämmte die kleinen Gräser der Wiesenhänge zu beiden Seiten der Straße; man sah, wie sie sich zitternd wellten unter seiner unsichtbaren, leisen und breiten Hand. In fernen Sümpfen begannen die Frösche zu quaken. Aus dem offenen Fenster eines knallgelben Vorstadthäuschens sah eine junge Frau in die leere Straße. Obwohl Carl Joseph sie nie gesehen hatte, grüßte er sie, stramm und voller Ehrfurcht. Sie nickte etwas befremdet und dankbar. Es war ihm, als hätte er jetzt erst Frau Slama zum Abschied gegrüßt. Wie ein Grenzposten zwischen der Liebe und dem Leben stand die fremde, vertraute Frau am Fenster. Nachdem er sie gegrüßt hatte, fühlte er sich wieder der Welt zurückgegeben. Er schritt schnell aus. Schlag dreiviertel acht war er zu Hause und meldete seinem Vater die Rückkehr, blaß, kurz und entschlossen, wie es sich für Männer geziemt.
Der Wachtmeister hatte jeden zweiten Tag Patrouillendienst. Jeden Tag kam er mit einem Aktenbündel in die Bezirkshauptmannschaft. Den Sohn des Bezirkshauptmanns traf er niemals. Jeden zweiten Tag, nachmittags um vier, marschierte Carl Joseph in das Gendarmeriekommando. Um sieben Uhr abends verließ er es. Der Duft, den er von Frau Slama mitbrachte, vermischte sich mit den Gerüchen der trockenen sommerlichen Abende und blieb an Carl Josephs Händen Tag und Nacht. Er gab acht, dem Vater bei Tisch nicht näher zu kommen als nötig war. »Es riecht hier nach Herbst«, sagte eines Abends der Alte. Er verallgemeinerte. Frau Slama gebrauchte grundsätzlich Reseda.
3
Im Herrenzimmer des Bezirkshauptmanns hing das Porträt, den Fenstern gegenüber und so hoch an der Wand, daß Stirn und Haar im dunkelbraunen Schatten des alten, hölzernen Suffits verdämmerten. Die Neugier des Enkels kreiste beständig um die erloschene Gestalt und den verschollenen Ruhm des Großvaters. Manchmal, an stillen Nachmittagen – die Fenster standen offen, der dunkelgrüne Schatten der Kastanien aus dem Stadtpark erfüllte das Zimmer mit der ganzen satten und kräftigen Ruhe des Sommers, der Bezirkshauptmann leitete eine seiner Kommissionen außerhalb der Stadt, von fernen Treppen her schlurfte der Geisterschritt des alten Jacques, der auf Filzpantoffeln durch das Haus ging, um Schuhe, Kleider, Aschenbecher, Leuchter und Stehlampen zum Putzen einzusammeln –, stieg Carl Joseph auf einen Stuhl und betrachtete das Bildnis des Großvaters aus der Nähe. Es zerfiel in zahlreiche tiefe Schatten und helle Lichtflecke, in Pinselstriche und Tupfen, in ein tausendfältiges Gewebe der bemalten Leinwand, in ein hartes Farbenspiel getrockneten Öls. Carl Joseph stieg vom Stuhl. Der grüne Schatten der Bäume spielte auf dem braunen Rock des Großvaters, die Pinselstriche und Tupfen fügten sich wieder zu der vertrauten, aber unergründlichen Physiognomie, und die Augen erhielten ihren gewohnten, fernen, dem Dunkel der Decke entgegendämmernden Blick. Jedes Jahr in den Sommerferien fanden die stummen Unterhaltungen des Enkels mit dem Großvater statt. Nichts verriet der Tote. Nichts erfuhr der Junge. Von Jahr zu Jahr schien das Bildnis blasser und jenseitiger zu werden, als stürbe der Held von Solferino noch einmal dahin, als zöge er sein Andenken langsam zu sich hinüber und als müßte eine Zeit kommen, in der eine leere Leinwand aus dem schwarzen Rahmen noch stummer als das Porträt auf den Nachkommen niederstarren würde.
Unten im Hof, im Schatten des hölzernen Balkons, saß Jacques auf einem Schemel, vor der militärisch ausgerichteten Reihe gewichster Stiefel. Immer, wenn Carl Joseph von Frau Slama heimkehrte, ging er zu Jacques in den Hof und setzte sich auf die Kante. »Erzählen Sie vom Großvater, Jacques!« – Und Jacques legte Bürste, Pasta und Sidol weg, rieb die Hände aneinander, als wüsche er sie von Arbeit und Schmutz, bevor er anfing, von dem Seligen zu sprechen. Und wie immer und wie schon gute zwanzig Mal begann er: »Ich bin immer mit ihm ausgekommen! Gar nicht jung mehr bin ich auf den Hof gekommen, geheiratet hab' ich nicht, das hätt' dem Seligen nicht gefallen. Frauenzimmer hat er nicht gern gesehn, ausgenommen seine eigene Frau Baronin, aber die ist bald gestorben, auf der Lunge. Alle haben gewußt: Er hat dem Kaiser das Leben gerettet, in der Schlacht bei Solferino, aber er hat nichts davon gesagt, keinen Mucks hat er gegeben. Deshalb haben sie ihm auch ›Der Held von Solferino‹ auf den Grabstein geschrieben. Gar nicht alt ist er gestorben, so am Abend, gegen neun, im November wird's gewesen sein. Geschneit hat es schon, nachmittags ist er schon im Hof gestanden und hat gesagt: ›Jacques, wo hast du die Pelzstiefel hingetan?‹ Ich hab's nicht gewußt, aber gesagt hab' ich: ›Gleich hol' ich sie, Herrn Baron!‹ ›Hat Zeit bis morgen!‹ sagt er – und morgen hat er sie nicht mehr gebraucht. Geheiratet hab' ich nie!«
Das war alles.
Einmal (es waren die letzten Ferien, in einem Jahr sollte Carl Joseph ausgemustert werden) sagte der Bezirkshauptmann beim Abschied: »Ich hoffe, daß alles glattgeht. Du bist der Enkel des Helden von Solferino. Denk daran, dann kann dir nichts passieren!«
Auch der Oberst, alle Lehrer, alle Unteroffiziere dachten daran, und also konnte Carl Joseph in der Tat nichts passieren. Obwohl er kein ausgezeichneter Reiter war, in der Terrainlehre schwach, in der Trigonometrie ganz versagt hatte, kam er »mit einer guten Nummer« durch, wurde als Leutnant ausgemustert und den X-ten Ulanen zugeteilt. Die Augen trunken vom eigenen neuen Glanz und von der letzten feierlichen Messe, das Ohr erfüllt von den donnernden Abschiedsreden des Obersten, im azurenen Waffenrock mit goldenen Knöpfen, das silberne Patronentäschchen mit dem goldenen, erhabenen Doppeladler am Rücken, die Tschapka mit Schuppenriemen und Haarschweif in der Linken, in knallroten Reithosen, spiegelnden Stiefeln, singenden Sporen, den Säbel mit breitem Korb an der Hüfte: so präsentierte sich Carl Joseph an einem heißen Sommertag seinem Vater. Es war diesmal kein Sonntag. Ein Leutnant durfte auch am Mittwoch kommen. Der Bezirkshauptmann saß in seinem Arbeitszimmer. »Mach dir's bequem!«, sagte er. Er legte den Zwicker ab, zog die Augenlider zusammen, erhob sich, musterte seinen Sohn und fand alles in Ordnung. Er umarmte Carl Joseph, sie küßten sich flüchtig auf die Wangen. »Nimm Platz!«, sagte der Bezirkshauptmann und drückte den Leutnant in einen Sessel. Er selbst ging auf und ab durchs Zimmer. Er überlegte einen passenden Anfang. Ein Tadel war diesmal nicht anzubringen, mit einem Ausdruck der Zufriedenheit konnte man nicht beginnen. »Du solltest dich jetzt«, sagte er endlich, »mit der Geschichte deines Regiments beschäftigen und auch ein wenig in der Geschichte des Regiments nachlesen, in dem dein Großvater gekämpft hat. Ich hab' zwei Tage dienstlich in Wien zu tun, wirst mich begleiten.« Dann schwang er die Tischglocke. Jacques kam. »Fräulein Hirschwitz«, befahl der Bezirkshauptmann, »möchte heute den Wein heraufholen lassen und, wenn's geht, Rindfleisch vorbereiten und Kirschknödel. Wir essen heute zwanzig Minuten später als gewöhnlich.« »Jawohl, Herr Baron«, sagte Jacques, sah Carl Joseph an und flüsterte: »Gratuliere herzlich!« Der Bezirkshauptmann ging zum Fenster, die Szene drohte rührend zu werden. Hinter seinem Rücken vernahm er, wie der Sohn dem Diener die Hand gab, Jacques mit den Füßen scharrte, etwas Unverständliches vom seligen Herrn murmelte. Er wandte sich erst um, als Jacques das Zimmer verlassen hatte.
»Es ist heiß, nicht?«, begann der Alte.
»Jawohl, Papa!«
»Ich denke, wir gehn an die Luft!«
»Jawohl, Papa!«
Der Bezirkshauptmann nahm den schwarzen Stock aus Ebenholz mit dem silbernen Griff, СКАЧАТЬ