Название: Bunte Zeiten - 1980 etc.
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Roman
isbn: 9783750213982
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Eigentlich war er das ideale Vorbild für Nina. Er fand, dass es mit der Liebe nicht gut zugehen konnte, wenn man zugedröhnt war. Er stand bedingungslos auf der Seite der Liebe. „Dope und Liebe vertragen sich nicht“, war sein Statement. Aber Ninas Sucht war bereits viel zu ausgeprägt.
Für Nina hatte er Mitleid empfunden und versucht, sie aus dem Sumpf zu befreien. Es war ihm nicht gelungen. Das lag an Ninas intimem Freund, der schon lange vor ihr zur H-Szene, wie man die Heroin-Szene kurz nannte, gehört hatte. Er hieß Helmut und sein Nickname war Helle. Beide verkehrten im Sound, einer Diskothek in der Genthiner Straße im Westberliner Bezirk Tiergarten. Nina war beeindruckt von »Europas modernster Disco« mit diesen einmaligen Laserprojektionen, der Nebelmaschine und dem professionellen Video-Aufzeichnungsgerät – Dinge, die es in keiner anderen Berliner Disco gab, noch nicht einmal im Big Eden, das dem schwerreichen Playboy Rolf Eden gehörte. Im Sound versorgte sich Nina mit Haschisch. Sie war anfangs nicht mehr als eine kleine Hascherin, wenn auch mit dreizehn, vierzehn Jahren viel zu jung.
Doro hatte in zig vertrauensvollen Gesprächen mit Nina herausgefunden, dass sie keines jener armen Mädchen war, die von einem bösen Fixer oder Dealer bewusst angefixt worden war, wie man es immer in der Zeitung las.
„Die meisten Jugendlichen kommen ganz allein zum Heroin, wenn sie so reif dafür sind, wie ich es war“, sagte Nina. Sie war eine durchaus ehrliche Haut und erkannte ihren Tanz auf dem Vulkan, sagte mir Doro später. Sie hatte eine Art Tagebuch über Ninas und Helles Leben in der Dope-Szene und auf dem Babystrich verfasst. Ich konnte es später lesen und war erschüttert.
An jenem Abend als ich in Frisco meine Arbeiten für das Forschungsvorhaben „Privacy and Freedom of Information Act“ vorbereitete, wollte Nina mit Helles Freund Kalle zu dem bei den Teenies »total angesagten« David-Bowie-Konzert in Westberlin gehen. Das war in ihrer Vorstellung das bedeutendste Ereignis ihres Lebens. Darauf wollte sie sich gut vorbereiten. Helle hatte von seinem Vater ausgerechnet an diesem Abend Ausgehverbot erhalten, aber dafür stand Kalle bereit. Er war Helles bester Freund. Kalle war in Ninas Augen ein taffer souveräner Fixer, den nicht nur sie, sondern viele Mädels aus dem Sound wegen seiner coolen Fixer-Mentalität bewunderten.
Während ich also In Frisco über meiner Arbeit brütete, traf sich Nina mit dem spindeldürren Kalle am Hermannplatz, um auf das Konzert zu gehen. „Du bist verdammt dünn“, sagte sie.
„Ich wiege immerhin noch 63 Kilo. Habe mich gerade beim Blutspenden gewogen.“
Kalle verdiente sich einen Teil des Geldes für sein Dope mit Blutspenden, wofür man alle vier Wochen antreten durfte und wofür es sagenhafte vierzig Mark gab. Obwohl ein vierwöchiger Rhythmus medizinisch unverantwortlich war und obwohl Kalle blass wie ein Todgeweihter und seine Venen total zerstochen waren und Fixer ja nicht unbedingt Gelbsuchtfrei waren, nahmen sie ihn immer wieder zum Blutspenden.
Als die beiden in der U-Bahn saßen, fiel Nina ein, dass sie ihr Valium zu Hause vergessen hatte. „So ein Kack, ich wollte es mitnehmen, falls ich beim Konzert durchdrehe.“
Sie hatte allerdings heimlich, ohne dass ihre Mutter es bemerkt hatte, im Bad schon ein paar Valium eingeschmissen. Das sollte für Coolness beim Bowie-Konzert sorgen. Ohne eine weitere Portion Valium in der Tasche fühlte sie sich unsicher.
Kalle wollte sofort kehrt machen und das Valium holen. Nina sah in genau an und schnallte, was Sache war. Seine Hände zitterten. Er kam auf Turkey. Das Wort stammt aus dem Amerikanischen und bedeutet »Truthahn«. Wenn ein Truthahn erregt ist, beginnt er gewaltig zu flattern. Turkey sind die Entzugserscheinungen bei alten Fixern, wenn die Wirkung des Drucks nachlässt, hatte mir Doro erklärt.
„Du bist auf dem Affen!“, sagte Nina. „Aber wir können nicht zurück, sonst kommen wir zu spät zum Konzert.“
„Ohne Dope und ohne Kohle aufs Konzert zu gehen ist Wahnsinn!“ Kalle wurde zusehends nervöser. Er war plötzlich nicht mehr der souveräne, erfahrene Fixer, den Nina noch vor ein paar Stunden bewundert hatte. „Vielleicht ergibt sich ja dort noch was“, fügte Kalle dann hoffnungsvoll hinzu.
Die Stimmung in der Deutschlandhalle muss spitze gewesen sein, wie Nina später Doro berichtete. Räucherstäbchen- und Marihuana-Düfte durchzogen die Sitzreihen. Neben Nina und Kalle saßen auf der einen Seite »echt coole« Berliner und Westdeutsche, die extra wegen Bowie gekommen waren; auf der anderen Seite saßen amerikanische Soldaten, die eine Pfeife rauchten. Nina und Kalle brauchten nur hinzugucken und man gab die Pfeife an sie weiter. Kalle zog wie verrückt an der Pfeife, aber es half nichts – es ging ihm immer schlechter.
Passender Weise sang Bowie gerade seinen Song »It’s too late«. Nina schleuderten die Worte mit einem Mal aus der Wahnsinnsstimmung heraus. Sie musste daran denken, dass der Song genau ihre Situation beschrieb. „Es ist zu spät“ – es drehte sich in ihrem Kopf wie eine Endlosspirale. „Es ist zu spät. Es ist zu spät.“ Jetzt hätte sie ihr Valium gebraucht.
Als das Konzert dem Ende zuging, wankten die beiden etwas vorzeitig aus dem Saal; Kalle war jetzt volle Pulle auf Turkey und Nina am Boden. Sie trafen auf einen Bekannten aus der Szene. Perry meinte, dass man sofort etwas für Kalle tun müsse. Auch er könne noch einen Druck vertragen. Er hatte noch zwei LSD-Trips, die er für zwanzig Mark versilberte. Was jetzt noch für Heroin an Knete fehlte, sollte Nina »schlauchen«. Sie war Meisterin im Schlauchen. Leute um ein paar Groschen anhauen, fiel ihr leicht. Es mussten mindestens noch einmal fünfzehn Eier zusammenkommen. Darunter gab es nichts zu kaufen in der Szene.
Das Schlauchen vor der Deutschlandhalle ging wie geschmiert. Viele Kids hatten gute Kohle mitgebracht, kamen aus gutsituierten Elternhäusern, in denen mit Moos nicht gespart wurde. Nina brachte ihre Sprüche „Kein Geld für die U-Bahnfahrkarte“; „Man hat mir das Portemonnaie geklaut“, „Ich hab‘ meine Tasche verloren“ und so weiter. Die Markstücke klingelten nur so in ihrer Plastiktüte. Der Bekannte kaufte davon Heroin – mehr als genug für zwei Drucks. »H« war damals gerade recht billig, weil dies den Einstieg erleichtern sollte, wie Nina später von einem Junkie und Oberdealer erfahren hatte.
An diesem Tag, an dem ich im Wipp-Sessel vor meinem Fenster in San Francisco saß, hatte Nina ihren Einstieg. Der Gedanke kam ihr wie angeflogen: Jetzt habe ich das Geld schon dafür geschlaucht, jetzt will ich davon auch wenigstens mal was probieren. Mal sehen, ob das Zeug wirklich so glücklich macht, wie die Fixer nach dem Druck aus der Wäsche gucken!
Weiter dachte Nina nicht; ihr war nicht bewusst, dass sie sich in den vergangenen Monaten systematisch fürs Heroin reif gemacht hatte. Erst die heimliche Bewunderung für diese lässigen Fixer und ihre abgeschottete Szene, dann offene Bewunderung. Danach das Eintauchen ihres Freundes Helle in die Fixerszene und ihre Akzeptanz dieser Szene. Nina war sich auch nicht darüber im Klaren, dass sie der Song »It’s too late« in diesem entscheidenden Moment voll geflasht hatte, weil sie sich in einem wahnsinnigen Tief befand.
Alles, was sie dachte, war, dass man sie jetzt nicht allein mit ihrer Scheiße lassen durfte. Apropos Scheiße – daran musste ich denken, als ich Doros Aufzeichnung zu Nina las – das Wort hat es doch tatsächlich geschafft, innerhalb eines Jahrzehnts die Kulturgrenze zu durchbrechen und sich im allgemeinen jugendlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik dauerhaft einzunisten. Aus amerikanischer Literatur war bekannt, dass »shit«, »fuck« und »asshole« schon lange nicht mehr auf die sprachliche Goldwaage gelegt wurden. Aber, so hatten mir meine Nachbarn СКАЧАТЬ