Название: Bunte Zeiten - 1980 etc.
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Roman
isbn: 9783750213982
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Was jetzt geschah, blieb für mich wochenlang im Nebel. Mary stand auf, nahm mich an der Hand und führte mich in ihr Zimmer, direkt aufs Bett und begann mich zärtlich zu streicheln. Merkwürdigerweise konnte oder wollte ich mich nicht dagegen wehren. Ich nahm nur wahr, dass ich wie ein Automat mit Mary Liebe machte.
Einige Tage später telefonierte ich nach Westberlin, sprach mit meiner Ex-Freundin Doro, der ich mich noch verbunden fühlte. Ich schilderte ihr die für mich tragische Neuigkeit bis hin zur Bettgeschichte mit Mary. Da sagte Doro lapidar: „Dazu gibt’s was Lustiges zu erzählen: Beklagt sich ein Glühwürmchen bei seinem Freund: »Meine Augen werden schlechter.«
»Wieso?«
»Gestern habe ich eine halbe Stunde mit einer Zigarettenkippe geflirtet.«“ Doro lachte. „Nun sag: Trifft das auch auf das Bums-Erlebnis mit Mary zu – werden deine Augen schlechter?“
„So ein Quatsch. Lass uns nicht unser Telefongeld mit solch kruden Blödeleien verplempern.“
Das war natürlich eine völlig unzutreffende Bemerkung. Schließlich telefonierte ich wieder einmal von einer Telefonzelle auf der Polk Street aus. Und zwar völlig umsonst, besser gesagt: auf Kosten von IBM. Den ziemlich simpel-dreisten Trick hatten mir meine Nachbarn verraten. Das Geheimnis sollte ich für mich behalten. Was mir schwer fiel, denn es gab späterhin noch einige sehr hilfsbedürftige und geldknappe Deutsche, bei denen ich nicht umhin kam, den hilfreichen Trick unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit weiter zu verraten.
„Die Sache ist mir zu ernst“, sagte ich in die Muschel. „Ich leide. Mein erster ernsthafter Liebeskummer, glaube ich.“ Meine Humorgrenze war unter aller Sau. Ich litt wirklich. Dazu kam plötzlich ein Gefühl, das ich bis dahin noch nie empfunden hatte, von dem ich wusste, dass es wohl existierte, das ich mir bisher aber ganz und gar nicht hatte vorstellen können: Heimweh.
Doro entschuldigte sich für den „dummen Witz, mit dem ich dich doch nur zum Schmunzeln bringen wollte.“ Dann analysierte sie in der mir bekannten Art meine psychosozialen Schwächen: Ohne lebendiges und allgegenwärtiges Umfeld würde ich mich allzu schnell als „nichtsnutzig“ empfinden.
„Knapp daneben ist auch vorbei“, sagte ich. „Eigentlich liegst du sogar voll daneben. Nichtsnutzig habe ich mich noch nie gefühlt. Du müsstest aus unserer siebenjährigen Beziehung wissen, dass für mich »Langeweile« ein völlig unbekannter Begriff ist. Ich habe immer eine Aufgabe und sehe auch an jeder Ecke auf mich lauernde Aufgaben. Insofern trifft es nicht zu, dass ich mich jemals als nichtsnutzig empfunden habe. Außer vielleicht … nun ja …“
„Außer heute, wo dir deine Liebe unerwartet weggebrochen ist. Stimmt’s?“
„Nichtsnutzig ist wirklich Quatsch, ich habe ja meine Aufgaben und Forschungspflichten. Es ist eher das ganz Persönliche. Privat fühle ich mich etwas verloren. Und die Sauna- und Bettgeschichte mit Mary geht mir irgendwie unangenehm nach.“
„Die Sache in der Sauna lässt sich aber gut erklären. Ich habe vor kurzem etwas zu menschlichem Verhalten in Ausnahmesituationen gelesen. Über Extremsituationen, wo es um Leben und Tod geht.“
„Was meinst du damit?“
„Ihr hattet das bedrohliche Erdbeben. Da kam dir unter dem Türrahmen Mary mit ihrem unverblümten Griff in die Eier doch schon sehr nahe. Das war das erste Zeichen. Dann lebte die existentielle Bedrohung noch eine Weile in euch weiter, und als ihr die Überlebens-Pool- und Sauna-Party aus Freude darüber, dass euch nichts passiert war, habt steigen lassen, gab es das spontane urwüchsige Bedürfnis nach Fortpflanzung.“
„Bei mir nicht!“, wandte ich ein.
„Bei dir deshalb nicht, weil du dein Überlebens- und Fortpflanzungspotential für Siu aufheben wolltest. Aber bei Mary griff offenbar dieses evolutionär bedingte Ur-Verlangen.“
„Große Worte“, sagte ich.
„Worte der Psychowissenschaften. Bin ich mit meiner Arbeitsgruppe gerade draufgestoßen.“
Doro erzählte mir noch ausgiebig von ihrem ehrenamtlichen studienbegleitenden Praktikum als Sozialpädagogin in der Bahnhof-Zoo-Szene: Viel Elend, große psychische Belastung, viel zu tun, starke Nerven, großer Erfahrungszugewinn, praktische Hilfe gefragt, Staatsversagen und so weiter.
Zum Schluss unseres fast fünfundvierzigminütigen Gesprächs sagte Doro: „Noch einmal zu Marys Sexual-Aktivitäten – sie wusste ja viel früher als du, dass es mit Siu am Ende war. Für sie warst du frei. Oder wegen mir auch Freiwild, egal.“
Als ich zurück nach Hause ging und in die Washington Street abbog, musste ich an IBM und deren Telefonkosten denken. Wenn die pleitegingen, war es zu einem millionstel Teil gewiss meine Schuld.
Um meine Gefühle in den Griff zu kriegen, haute ich in die Schreibmaschinentasten. Ich bombardierte meine Freunde auf dem guten alten Kontinent mit Briefen, in denen mein mehr oder minder verstecktes Heimweh aus allen Zeilenabständen triefte. Ich wollte kein Mitleid; nein, nein, nein, das wollte ich nicht; eigentlich ging es mir doch super – lebte ich nicht wohlversorgt in einem traumhaften Land? Aber Verständnis würde mir jetzt so gut tun, ein wenig Verständnis für meine Abgeschiedenheit in dieser freundlichen Atmosphäre des gelebten easy-going, der allgegenwärtigen Oberflächlichkeit.
Nina & Helle & der Bahnhof Zoo
Ich saß in meinem gemütlichen Wipp-Sessel, den dumpfen Signalhörnern in der Ferne lauschend. Bald schon würde der »kleine« Lutz, der jetzt immerhin schon zweiundzwanzig war, zu einem mehrwöchigen Besuch zu mir kommen. Die Clausewitzer, meine liebenswürdige Ex Doro, ihre Busenfreundin Elke, die ich sehr mochte, und die mich stets mit aktuellen Nachrichten aus Italien versorgte, und ich – wir alle hatten den Jungen 1973 als sechzehnjährigen „Kleinen“ unter unsere WG-Fittiche genommen. Er war bei seiner alleinerziehenden Mutter ausgebüxt. Sie hatte vor einiger Zeit hier in Frisco angerufen und mich gefragt, ob ich ihrem Sohn wegen seiner verrückten Berufswünsche den „Kopf gründlich waschen“ könne.
„Seefahrer, Leichtmatrose – das ist doch nichts für meinen sensiblen Lutz!“
Auf mich würde er doch hören. Ihre Worte seien bisher wirkungslos verpufft.
Ich hatte unbedachter Weise zugesagt.
Während mich das vage Gefühl von Heimweh ruhelos hin und her wippen ließ und ich damit nicht aufhören, musste ich noch einmal an Doro denken. Sie hatte ein soziales Herz, was uns stets verbunden hatte. Sie trat mit all ihren Fähigkeiten und mit ganzem Herzen für diejenigen ein, deren Not ersichtlich war. Sie hatte mir bereits vor meiner Abreise berichtet, wie sie sich um Nina, die blutjunge Freundin von Lutz, kümmerte.
Hintergrund dazu war ihr Sozialpraktikum. Es gab ihr in der Szene eine gewisse Autorität, zumal man dort die blonde, langhaarige und unkonventionelle Doro in ihren modernen knöchelfreien, leicht ausgestellten Jeans als unbürokratisches, hilfsbereites Gutherzchen zu schätzen wusste. Einigen Fixern war Doro zu bürgerlich und modernistisch, und doch war es wohl gerade das, was sie faszinierte: Eine aus dem fortschrittlichen und doch so verhassten Bürgertum scheute sich nicht, sich zu ihnen, den heruntergekommenen Outlaws, zu gesellen und sich ihrer Probleme anzunehmen. Keiner von ihnen wusste von Doros politischer Weltanschauung. Politik interessierte Junkies nicht.
Nina war vor einem Jahr, als sie am Bahnhof СКАЧАТЬ