Название: Der mündige Trinker
Автор: Peter Sadowski
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783844248210
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Ähnlich wird bei biologischen Bedingungen argumentiert: Wenn z.B. bei einem Individuum eine Imbalance zwischen bestimmten Neurotransmittern bestimmte Stimmungslagen fördern sollte, könnte möglicherweise eine Verordnung von z.B. Serotonin-(Noradrenalin)-Wiederaufnahme-Hemmern oder anderen Medikamenten eine Linderung nach sich ziehen. Möglicherweise hat dieses Individuum im Sinne einer Eigenmedikation auf diese biologische Bedingung mit dem Konsum von Alkohol Einfluss nehmen wollen.
Nach der psychotherapeutischen Logik der Selbstmanagement-Therapie wären die Folgen der biologischen Bedingung (der Imbalance von Neurotransmittern), also die unerwünschten Stimmungslagen, zuerst zu identifizieren. Dann wären zum Alkoholkonsum alternative Reaktionen zu entwickeln (z.B. Umbewerten, Aushalten, Beeinflussen der Stimmungslagen ohne den Konsum von zustandsverändernden Stoffen).
Die Option auf eine Medikation bleibt dabei grundsätzlich erhalten, wird aber als letzte Möglichkeit gesehen, wenn der Einfluss des Individuums zur anderweitigen Bewältigung der unerwünschten Stimmungslagen nicht ausreicht.
1.2.2 Zur Rekonstruktion der individuellen Störungsentwicklung
Diese funktionalen Zusammenhänge lassen sich grundsätzlich ordnen, wenn man statistisch relevante Mengen von Patienten untersucht. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen (ein gewisser Prozentsatz von Alkoholikern hat Defizite in der Selbstsicherheit, im Kommunikationsverhalten, beim Lösen komplexer Probleme oder beim Entwickeln von Lebensperspektiven usw.) können gut geeignet sein, Hypothesen über das individuelle Bedingungsgefüge desjenigen Patienten zu entwickeln, mit dem in einer aktuellen Situation eine therapeutische Intervention angestrebt wird.
Ein zwingender Interventionspunkt lässt sich für den Einzelfall aus diesen statistischen Zusammenhängen jedoch nicht erschließen.
Deshalb sind die besonderen Zusammenhänge eines jeden Einzelfalles in einem Prozess der funktionalen Diagnose zu erarbeiten.
Die (radikalen) Konstruktivisten, z.B. Watzlawick (1976) haben überzeugend dargelegt, dass in der Rückschau keine Wahrheit über solche Entwicklungen herzustellen ist. Für den Bereich der Psychotherapie haben sich z.B. Caspar, F. (1996) und andere mit der Rekonstruktion von Störungsverläufen beschäftigt und sind zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Für den engeren Bereich der Behandlung von Alkoholabhängigkeit haben vor Jahren schon Antons und Schulz (1981) darauf hingewiesen, dass die Retrospektive grundsätzlich nicht geeignet ist, das individuelle Bedingungsgefüge bei Beginn der Störungsentwicklung zu erhellen.
Wenn sich individuelle Therapieziele ergeben haben, werden alle zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt werden, eine Annäherung an die gemeinsam definierten Therapieziele zu erreichen. Bei der Wahl der einzusetzenden therapeutischen Mittel werden die Überlegungen von Kanfer, Reinecker und Schmelzer (2000) zu würdigen sein:
Selbstmanagement-Therapie propagiert eine große Nähe zu empirisch-wissenschaftlichen Standpunkten und versucht in dieser Hinsicht, vor allem Erkenntnisse der Psychologie und ihrer Nachbardisziplinen für den klinischen Bereich zu nutzen. Dies bedeutet auch das Einnehmen eines pragmatischen Standpunkts, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden anhand ihres Nutzens für das Erreichen bestimmter Ziele beurteilt und eingesetzt werden (ebd. S.16, Hervorhebung im Original).
1.2.3 Zustandsabhängiges Lernen
Bei der Vermittlung von Informationen über Abhängigkeit an die Patienten fehlt in Suchtkliniken selten der Hinweis darauf, dass durch erneuten Konsum von Alkohol nach einer Behandlung die Wahrscheinlichkeit stark ansteigt, dass der Patient wieder in eine ungünstige Entwicklung abrutscht, wie sie vor der Behandlung bestanden hatte.
Unserer Begründung für das notwendige Anstreben dauerhafter Abstinenz ist folgende: Durch den Konsum von Alkohol wurde der intrapsychische Zustand verändert. Mit dem veränderten Zustand wurden im Verlauf der Abhängigkeitsentwicklung immer intensiver Gefühle und Gedanken assoziiert. Zu diesen Gedächtnisinhalten gehören z.B. eine starke Sehnsucht nach Wohlbefinden oder Gedanken, die es erlauben, die längerfristigen Folgen zu vernachlässigen oder beides (z.B.: „Ich denke jetzt nicht an meine Gesundheit.“ oder „Ich denke jetzt nicht an Partnerschaft oder Arbeit.“) 3 Dieser Sachverhalt wird gut von Patienten verstanden.
Ebenso lässt sich gut vermitteln, dass Kontextvariablen solche automatisiert ablaufenden Prozesse über Phänomene des zustandsabhängigen Lernens anstoßen können (siehe den entsprechenden Teil im Anhang unter Suchtinformation, Kapitel 8.1). „Wenn ich wieder in der Kneipe sitze, fällt mir leichter wieder ein, was ich in der Kneipe erlebt habe.“
Eine weitere Überlegung betrifft den Transfer von Informationen aus den Bedingungen der Therapie in das Alltagsleben des Patienten. Wenn ein Patient nach der Behandlung in einer als riskant identifizierten Situation ist, sollten die Bemühungen um vermehrte Selbstkontrolle (mit dem Ziel des Erhaltes der Abstinenz) zunehmend automatisierter ablaufen. Gleiches gilt für intrapsychische Zustände, die als kritisch identifiziert wurden (siehe auch Kapitel 3.2 „Individuelle Therapieziele“).
Grawe (1998) ordnet die Befunde zur Gedächtnisforschung so, dass die eben beschriebenen Phänomene dem expliziten oder konzeptuellen Gedächtnis zuzuordnen seien. Der weniger zugängliche Teil des Gedächtnisses wird bei Grawe implizit oder prozedural genannt. Der Zugriff auf diese Teile kann „nur prozedural aktiviert“ werden (Grawe, 1998, S. 240, Hervorhebung im Original).
Es wird sich also nach der Behandlung der einzelne Patient mit erhöhter Wahrscheinlichkeit an einige Gedächtnisinhalte aus der Therapie besonders gut erinnern, wenn er in gleicher Weise wie in der Therapie ritualisiert in einem Gesprächskreis mit anderen, unter Leitung eines Therapeuten, zusammensitzt; oder wenn sich in seinem Alltagsleben eine Situation ergibt, die große Ähnlichkeit mit dem Ritual des Einzelgespräches aus der Therapie hat.
Diese Überlegung spricht dafür, möglichst viele Anteile des Erlebens von Patienten an Situationen zu binden, die im Alltagsleben des Patienten Entsprechung finden. Wenn also Gespräche in einer lockeren Atmosphäre stattfinden, wenn der Patient dabei an einem Tisch sitzt, dabei möglicherweise auch Kaffee trinkt und auch mal lacht (wenn es etwas zu lachen gibt), sollte die Wahrscheinlichkeit erhöht sein, dass er einen verbesserten Zugang zu den dabei abgespeicherten Gedächtnisinhalten hat, wenn er sich in seinem Alltag in ähnlich unbefangenen Situationen bewegt.
Wenn man den Argumenten von Grawe folgt, eröffnet sich durch eine lockere, eher am Alltagsverhalten des Patienten angepasste Vorgehensweise die Chance, die Rückfallwahrscheinlichkeit zusätzlich günstig zu beeinflussen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der einzelne Patient auf Inhalte aus der Behandlung zugreifen kann, wäre auch außerhalb der als riskant identifizierten Situationen und der kritischen intrapsychischen Zustände erhöht.
1.2.4 Krankheitsmodell
In der Johanna-Odebrecht-Stiftung war im Laufe der Konzeptentwicklung entschieden worden, innerhalb eines bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells zu intervenieren.
Die stark vereinfachende Abbildung unten macht deutlich, dass im Rahmen des klassischen medizinischen Krankheitsmodelles eine Intervention idealerweise gegen die Ursache der Störung gerichtet wird; symptomatisch wird nur dann behandelt, wenn die Ursache der Störung nicht zu beseitigen ist. Der Behandler ist innerhalb dieses Modells derjenige Fachmann, der die Symptome deutet und aus dieser Deutung einen regelgerechten Verlauf der Störung, die Intervention und einen СКАЧАТЬ