Название: Entfremdung und Heimkehr
Автор: Werner Boesen
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783741843419
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GEGENÜBER JEDEM WEISUNGSGEBUNDEN
Das Heimkind hatte nicht nur den Erziehern zu gehorchen, sondern jedem beliebigen Erwachsenen. Sobald an die Erzieher etwas Negatives herangetragen wurde - egal woher - war man als Heimkind einer Tracht Prügel sicher.
SELBSTVERLEUGNUNG
Mit das Schlimmste, was jedem Menschen passieren kann: die Selbstverleugnung. Das Heimkind hatte bei der Heimeinweisung alles zu vergessen, was es bisher erlebt und an Wertvorstellungen verinnerlicht hatte. Die Herkunftsfamilie war ohne Bedeutung. Nur die Heimnormen zählten und nur die Erfüllung der Anweisungen der Erzieher war maßgebend. Da jedoch jeder Mensch an dem festhalten will, was er bisher erreicht und an Werten verinnerlicht hat, gerät das Heimkind in einen Konflikt, den es nicht lösen kann. Die provokative Forderung der Erzieher, die eigenen Eltern zu vergessen und die massive Zwangsausübung durch Gewaltanwendung lassen dem Heimkind keinerlei Chance, über die eigenen Eltern zu reden. Leider wird das Heimkind auch gar nicht danach gefragt, was ihm bei seinen Eltern gefallen hat. Bei den staatlichen Instanzen zählten nur die scheinbar objektiv feststellbaren schweren Erziehungsmängel der Eltern.
Mutterliebe schien nicht möglich zu sein bei einer Frau, die wechselnde Männerbekanntschaften unterhielt. Für die Kinder gibt es keinen plausibel erklärbaren Grund, von ihrer geliebten Mutter gerissen zu werden. Absurd ist dann die Frage seitens der Vormundschaft, ob man zu seiner eigenen Mutter zurückwolle. Die Verneinung dieser Frage galt als Indiz, dass es dem Heimkind gelungen war, sich von dem „schlechten Elternvorbild“ zu lösen. Für ein Kind gibt es jedoch keine schlechten Eltern. Die Eltern sind stets das Hauptvorbild, an dem sich das Kind orientiert, unabhängig davon, wie das Verhalten der Eltern durch Dritte beurteilt wird. Die Beurteilung der Eltern durch Dritte interessiert ein Kind nicht. Jeder kann selbst überprüfen, wie Menschen reagieren, wenn in ihrer Gegenwart über die eigenen Eltern etwas „Schlechtes“ gesagt wird. Die Selbstverleugnung treibt im Extremfall die Menschen zum Selbstmord oder Märtyrer.
Meine Geschwister und ich sind froh, dass wir unsere Mutter stets in guter Erinnerung behalten haben und dies in unserem Herzen mitgetragen haben. Unsere Mutter gab uns die Kraft durchzuhalten, sodass wir uns alle gut entwickeln konnten.
FÜR SICH SELBST VERANTWORTLICH
Jedes Heimkind war sich selbst verantwortlich. Offiziell hatten die Erzieher die direkte Verantwortung über die zugeordneten Kinder. Doch wenn es etwas Gutes über Heimkinder zu berichten gab, fühlte sich plötzlich jeder verantwortlich, allen voran die Ordensträger. Gab es etwas Negatives zu sagen, hatten dies die Erzieher zu verantworten. Die Erzieher hingegen hatten ein recht gutes Alibi, sich aus der Verantwortung zu ziehen: einerseits kamen die Kinder ja verhaltensgestört ins Kinderheim, andererseits war man als Erzieher in Ausübung einer Berufsrolle nur eine begrenzte Zeit für die zugeordneten Kinder zuständig. Insofern konnten die leiblichen Eltern schon irreparable Schäden an ihren Kindern angerichtet haben, die halt immer wieder zu Tage treten. Aber auch die Erzieherkollegen konnten in der übrigen Zeit, in der man nicht berufstätig im Kinderheim war, etliches falsch machen. Dann gibt es noch die kluge Erkenntnis, dass jedes Menschen Schicksal vom „lieben Gott“ vorbestimmt ist und es „muss ja kommen, wie es kommen muss“. Die Heimkinder hatten das Nachsehen. Entweder sie kapierten es irgendwann, was man mit ihnen vorhatte oder sie gingen zugrunde, denn
„die Letzten beißen die Hunde“.
DIE ROLLE DER ERZIEHER
Die Hauptfunktion der Erzieher bestand im Erziehen von fremden Kindern. Dazu wurden sie beruflich ausgebildet. Die Ausbildung reichte jedoch nicht aus, um eine Masse von Kindern erziehen zu können. Erziehung lässt sich aber auch in einer Ausbildung nicht erlernen, denn Fachwissen allein genügt bei weitem nicht, um Kinder zu erziehen. Von der Tatsache, dass es einen Beruf „Erzieher“ gibt, erfuhren wir erst, als wir schon lange aus dem Kinderheim heraus waren und wir konnten uns kaum vorstellen, was unter der Ausbildung „Erziehung“ zu verstehen ist. Lernte man da etwa, wie man Kinder „richtig“ prügelt oder wie man Heimkind-Berichte zu formulieren hatte, ohne dass das Jugendamt Verdacht schöpfen musste? Lernte man dort, wie man Kinder zu züchtigen hatte, bis sie es nicht mehr wagten, über die Situation im Heim gegenüber Außenstehenden zu reden? Lernte man dort, wie man junge Menschen stets auf ihre elende Herkunft aufmerksam machen musste, um sie zu ehrerbietenden und dankbaren Geschöpfen heranzuzüchten? Dies lernte man sicherlich nicht, doch es gibt ja den gewissen Unterschied zwischen Theorie und Praxis.
Geschlossene Einrichtungen begünstigen die Züchtigung von Kindern, denn die Öffentlichkeit scheint sich kaum dafür zu interessieren, was hinter hohen Mauern passiert. Sie erhält auch kaum Einblick und wenn, dann nur nach Voranmeldung. Zu groß ist das Vertrauen in die „göttliche Überwachung“. Doch auch Nonnen und Patres sind nur Menschen, mit allen Fehlern und Schwächen, die Menschen haben können. Niemand ist perfekt. Dies wird man auch nicht durch eine Berufsausbildung, auch wenn es ein typisches Kennzeichen jeden erlernten Berufes ist, keine Fehler mehr in dem gelernten Beruf zu machen.
Die Erzieher wirkten wie Perfektionisten, denn sie selbst machten grundsätzlich keine Fehler. Fehler machten immer die Heimkinder. Diese Fehler mussten ihnen ausgetrieben werden. Prügel galt dabei als Allheilmittel und das nicht nur bis Ende der sechziger Jahre. Die Vielzahl der Kinder stellte den Heimerzieher zwangsläufig in die Situation einer permanenten Überforderung, in der es ihm scheinbar nur noch möglich war, sich auf die Stufe von Neo-Primitiven zu begeben, die verzweifelt auf ihre urzeitliche Muskelkraft zurückgriffen, um noch eine Art persönlicher Dominanz zu demonstrieren. Der Heimerzieher war kein Erzieher mehr, sondern bestenfalls ein Heimkindhüter oder Heimkindwärter, vergleichbar mit dem Schafhirten, der seine Schäfchen mit Hilfe von bissigen Hunden zusammenhält. Wer aus der Reihe tanzt, wird auf die „Schlachtbank“ geführt.
DAS JUGENDAMT
Eine Sozialarbeiterin des Jugendamtes führte die Heimeinweisung durch, indem sie das Kind vom Elternhaus wegnahm und in ein Kinderheim brachte. Außerdem sorgte sie für die Heimentlassung. Hierzu vertraute sie scheinbar blind den Heimkindberichten der Erzieher des Kinderheims. Sonst kümmerte sie sich nicht um ihre Zöglinge und wenn, dann nur von ihrem Büroschreibtisch aus. Die Sozialarbeiterin des Jugendamtes war primär als Sachbearbeiterin tätig. Ihre zu bearbeitenden Sachen waren die Heimkinder bzw. Heimkind-Angelegenheiten. Die Sozialarbeiterin blieb stets auf Distanz gegenüber dem Heimkind. Wir wurden von ihr nicht psychologisch und pädagogisch betreut und erhielten auch von keinem Fachpsychologen eine Erklärung für unsere Heimeinweisung. Von den Heimkindhütern wurde die Sozialarbeiterin gegenüber den Heimkindern als Autoritätsperson bezeichnet, die jederzeit die Möglichkeit hat, die Heimkinder in noch schlimmere Heime zu stecken. Aus diesem Grunde konnten sich die Heimkinder auch nicht der Sozialarbeiterin anvertrauen.
Die Sozialarbeiter sind eingebunden in unsere bürokratische Ordnung, in der Kindeswohl kaum Platz zu haben scheint. Ihre Beurteilung in Sachen Heimkind-Angelegenheiten ist auch Basis für juristische Entscheidungen der Vormundschaftsgerichte. Aus unserer Kindessicht bleibt uns nichts anderes festzustellen, dass Juristen wohl sehr gut mit Paragraphen umgehen können. Sie beherrschen dies wie die Jongleure ihre Bälle werfen. Ein ernsthaftes Interesse im Bemühen um Kindeswohl, das heißt zum Beispiel den Kindern adäquate Lebensverhältnisse zu bieten, indem dauerhafte Bezugspersonen zu suchen sind, ist bestenfalls vorgetäuscht. Viel leichter fällt die Einweisung der Kinder in die nächstgelegene oder oft auch weit entfernte geschlossene Einrichtung, die aus Sicht der Juristen und Sozialarbeiter wohl nur die Gewähr dafür СКАЧАТЬ