Название: Crazy Zeiten - 1975 etc.
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Roman
isbn: 9783750214989
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Wir stiegen wieder in unsere Autos, wobei John und ich in der klapprigen Bullenkiste von Kommissar Hassan mitfuhren. Der Kommissar wollte uns das neue Signalhorn vorstellen, und so fuhren wir bei fast menschenleeren Straßen mit großem Tatütata – es klang in meinen Ohren wie arabische Schlangenbeschwörer-Musik – zum Jardins des Tanger zurück, wo wir wieder auf den bekannten Araber trafen, der diese Anlage offenbar leitete.
„In den vergangenen Wochen haben viele europäische Jugendliche bei mir gewohnt“, sagte er in bestem Französisch. Hassan übersetzte. „Darunter, wie ich meine, Schwedinnen, Dänen, Britten, Deutsche und Norweger sowie einige Franzosen. Jemand von ihnen könnte sicherlich Sveas Pass gestohlen haben. Aber es ist auch möglich, dass Svea den Pass gegen gutes Geld verkauft hat.“
Hassan bestätigte diese Einschätzung mit einem Nicken. Wir waren so schlau wie zuvor.
*
In der Berliner Clausewitzstraße 2 lag ein unscheinbares Büchlein, versteckt hinter hunderten von Büchern in einem Wandregal. Ein Tagebuch, das ich bald schon finden würde. Es war mit schwer lesbarer Krixel-Handschrift geschrieben. Verfasst von meinem guten Kumpel und Mitgründer unserer ersten Wohngemeinschaft, Rolf, konnte ich folgende Zeilen entziffern:
29. Januar: Schlimm oder nicht schlimm. Ich merke, dass ich so richtig zu saufen angefangen habe. Ich komme da irgendwie nicht mehr raus und bin meistens so besoffen wie alle Funktionäre der KPdSU zusammengenommen. Eines Nachts hatte ich sogar schon das Brotmesser mit ins Bad genommen und mich in die Badewanne gelegt, als gerade niemand in der WG war außer mir. Und dann dachte ich, Moment, alter Junge, vielleicht möchte deine Liebste auch noch mal mit dir sprechen. Und dann kam sie tatsächlich.
Peggy war noch gerade rechtzeitig von einer Kneipentour heimgekommen und hatte mich gefragt, was das soll. Ich sei betrunken, sagte ich entschuldigend.
30. Januar: Am Morgen, als ich zu mir kam, schlief Peggy noch, und als erstes rotzte ich auf den Teppich im Gemeinschaftsraum, weil – ich weiß nicht warum. Alle schliefen noch, und ich rauchte drei Zigaretten hintereinander und drückte sie auf meinem Handrücken aus. Schmerz fühlte ich dabei nicht. Irgendwie war alles verrückt. Ich sah auf, und da saß plötzlich jener vietnamesische Medizinstudent, der dabei war, als ich in der Botschaft in Ostberlin die gespendete Medizintechnik überbrachte.
Es war eine kuriose Situation, denn der Typ war manchmal durchsichtig. Ich konnte durch ihn hindurchsehen. Dann sah ich hinter ihm ein Einmachglas stehen, in dem ein Embryo lag. Der Student lachte und sagte: Ich habe das Baby vor den GI’s gerettet.
Ich sah eine Whiskyflasche und begann wieder zu trinken. Dann legte ich mich noch einmal neben Peggy und schlief.
2. Februar: Peggy ist ausgezogen.
Rolf hatte den stern abonniert. Vielleicht hatte Peggy die erste Januar-Ausgabe des stern als Aufforderung an sich selbst verstanden. Die Titelgeschichte lautete: »Frauen machen mobil – Kinderzimmer, Heim und Herd sind kein ganzes Leben wert«. Statt „Kinderzimmer“, für das es noch keinen Anlass gab, hatte Peggy wahrscheinlich „Alkohol“ eingesetzt.
Von Rolfs Drama – eigentlich war es auch Peggys Drama – ahnte ich auf dem Weg zum Zoco Chico nichts. Auch nichts von Tommis Drama bei seiner Poststelle. Es war völlig anderer Natur. Es war ein permanentes Nervendrama, bei dem sich Tommi zu behaupten wusste. Ein Vorgesetzter war bei der morgendlichen Sortierarbeit an ihn herangetreten.
„Lettau, ich habe eben mitgestoppt. Sie haben dazu 36 Minuten gebraucht.“
Tommi gab ihm keine Antwort.
„Ist Ihnen bekannt, welche Zeitvorgabe hierfür eingeplant ist?“
„Nein.“
„Sind Sie schon lange hier?“
„Etliche Jahre.“
„Und Sie kennen die Norm nicht?“
„Nein.“
„Sie verteilen die Post in die Verteilerkästen, als sei sie Ihnen völlig gleichgültig.“
Tommi schaute sich um; er war mit seiner Verteilung fertig und die anderen waren noch am Einsortieren der Briefe. Der Antreiber stand vor den Blechkästen und zeigte mit dem Finger auf sie. „Sehen Sie die Zahl hier vorne am Kasten?“
„Klar doch.“
„Was sagt Ihnen diese Zahl?“
Tommi zuckte mit den Schultern.
„Diese Zahl sagt Ihnen, wie viele Briefe Sie pro Minute einzusortieren haben. Ein 75-cm-Behälter muss in 29 Minuten geleert sein. Sie haben sieben Minuten länger gebraucht, als die Norm vorschreibt.“
Er zeigte auf die 29.
„Für mich hat die 29 nichts zu bedeuten.“
„Was meinen Sie damit?“
„Das soll heißen, dass irgendein Bürokrat auf eigene Faust oder auf Geheiß irgendeines anderen Sesselfurzers hier vorbeikam und nach dem Zufallsprinzip eine 29 anklebte.“
„Das sehen Sie völlig falsch. Die 29 ist das Ergebnis jahrelanger Erfahrungen und Durchschnittsberechnungen.“
Wozu wurde hier ein Aufstand geprobt, fragte sich Tommi und gab ihm keine Antwort.
„Ich werde das protokollieren müssen für Ihre Personalakte, Lettau. Sie müssen dann zu einer Belehrung.“
Ein paar Tage später betrat Tommi das Büro, um sich belehren zu lassen. Da saß ihm wieder einmal der Gewerkschaftskollege Schöll gegenüber, diesmal als Vertreter der Arbeitgeberseite. Er hatte einen breiten Kopf, eine breite Boxernase, ein breites Kinn. Der ganze Kerl sah aus wie ein breitschnauziger Boston Terrier.
„Setzen Sie sich, Kollege Lettau.“
„Lassen Sie das am Besten!“
„Was lassen?“
„Das mit dem Kollegen!“, sagte Tommi.
Schöll hatte eine Menge Papiere in der Hand, die er nun mit wichtigtuerischer Mine überflog.
„Lettau, Sie brauchen 36 Minuten, um einen 29-Minuten-Behälter zu leeren. Das ist entschieden zu lang!“
„Mensch Meier, bleiben Sie mir mit dem Scheißdreck vom Hals. Ich könnte kotzen.“
„Wie?“
„Ich habe gesagt, Sie sollen mir mit diesem Scheißdreck vom Hals bleiben! Ich unterschreibe Ihren komischen Belehrungswisch und damit basta. Sie sparen Zeit. Ich spare Zeit.“
„Meine Amtspflicht im Interesse unseres freiheitlich-demokratischen СКАЧАТЬ