Название: Der große Reformbetrug
Автор: Udo Schenck
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783738045604
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Neben dem Umgang mit den ALG-II-Beziehenden wird in der genannten Studie kurz auf die „entmutigende und abschreckende“ innenarchitektonische Gestaltung der Jobcenter eingegangen. So wird hierzu eine Expertin folgendermaßen zitiert: „Wenn man da rein kommt (i. d. Anmeldung des Jobcenters, d. V.), ist da schon ein mehrfaches Abschottungssystem. Man fühlt sich schon abgewiegelt, bevor man den ersten Mitarbeiter zu Gesicht bekommen hat“ (vgl. ebd. S. 5). Ferner wird geschildert wie die Vertreter/innen einer Beratungsstelle auf ein abwehrendes Verhalten der Mitarbeiter in den Jobcentern treffen, wenn sie nicht als solche erkannt werden. „Dann werden sie ebenso unwirsch gefragt: ‚Was wollen Sie denn Hier?’, oder damit konfrontiert, dass sich Mitarbeitende abrupt in ihr Büro zurückziehen, um jeglichen Fragen zu entgehen. ‚Man muss es selbst erleben’ “ (vgl. ebd. S. 5).
In der Studie wurden drei Ebenen einer „schlechten“ und „unwürdigen“ Verwaltungspraxis in den Jobcentern unterschieden, wobei jedoch die Erfahrungen von ALG-II-Beziehenden und Experten mit Hamburger Jobcentern durch die Wechselwirkung zwischen diesen Ebenen und den sich daraus ergebenden „Dynamiken“ geprägt seien. Folgende Ebenen wurden unterschieden: 1. die Ebene der bürokratischen Abwicklung, 2. die sog. Interaktionsebene und 3. die Materiell-rechtliche: „Von Rechtsunsicherheit bis Rechtsbruch“.
Auf der Ebene der bürokratischen Abwicklung seien nach der Studie die ALG-II-Beziehenden grundsätzlich mit einer „Papierflut“ konfrontiert und hätten „Aktenordner voller Bescheide zu Hause“. Dies kann der Autor nur bestätigen, denn in kürzester Zeit häuft sich ein Vielfaches an Bescheiden und Dokumenten an, von dem, was sich in einem vergleichbaren Zeitraum während einer Arbeitslosigkeit unter der früheren Betreuung des Arbeitsamtes anhäufte. Als Schikane und Beschäftigungstherapie würden die ALG-II-Beziehenden es erleben, dass sämtliche Unterlagen „fünfmal“ eingereicht werden müssten, denn dadurch steige ihr Verwaltungsaufwand weiter und würde ihr kooperatives Bemühen und die aufgebrachte Zeit entwertet. Weiterhin heiß es: „Das Vertrauen in einen ordnungsgemäßen bürokratischen Ablauf wird auch durch die typische Erfahrung unterminiert, dass im Briefkasten des Jobcenters eingeworfene Unterlagen ihre Empfänger/innen im Haus nur selten erreichen, ‚dann sagen die, ham wir nicht gekriegt’. Das bedeutet für die ALG-II-Beziehenden, ‚sich einreihen, lieber ‘ne Stunde warten’, um die geforderten Unterlagen direkt am Empfang abgeben und sich die Entgegennahme quittieren lassen zu können. Teilweise wird aber auf diese zeitintensive ‚Sicherheitsmaßnahme‘ der ALG-II-Beziehenden am Empfang verärgert reagiert oder das Ausstellen einer Empfangsbestätigung sogar verweigert“ (vgl. ebd. S. 5). Lägen die erforderlichen Unterlagen vor erwiesen sich selbst bei dringenden Anliegen häufig lange Bearbeitungszeiten als eine weitere bürokratische Hürde. Dieses Verhalten der Sachbearbeitenden sei angesichts der prekären Lebenslage der ALG-II-Beziehenden unverständlich und erscheine rücksichtslos. Kritisiert wird ebenso die mangelnde „Zahlungsmoral“ der Jobcenter, durch die viele Kunden in existenzielle Bedrängnis geraten, und dass so zusätzlich Gefühle der Ohnmacht ausgelöst würden: „Denn während von den ALG-II-Beziehenden ständige Verfügbarkeit erwartet wird, sind ihre zuständigen Sachbearbeitenden für sie nur selten ansprechbar. Auf Termine müssen ALG-II-Beziehende lang warten und auch telefonisch sind die Sachbearbeitenden nur schlecht erreichbar.“ (vgl. ebd. S. 6).
Insgesamt wird das Verwaltungshandeln der Jobcenter in der Studie als willkürlich betrachtet, wobei diese Ansicht „von den Expert/innen durchgängig geteilt“ werden würde. Durch die Abschottungspraxis der Jobcenter werde ebenso die Arbeit der Experten „gravierend erschwert“, die sich um die Belange ihrer Klienten bzw. sog. Kunden kümmern müssen. So wird eine Expertin folgendermaßen zitiert: „Man kriegt eigentlich generell kaum direkte Antwort. Die direkte Kommunikation hat sich ziemlich verflüchtigt. Der Bescheid ist der Kommunikationsweg. Das Persönliche fehlt total.“ (vgl. ebd. S. 6).
Als „sehr problematisch“ werden unverständliche Formulare angesehen, die selbst mit hohem Bildungsstand Schwierigkeiten bereiten würden, zumal bei Falschangaben Sperren und Sanktionen drohen würden. „Verschlüsselte Briefe“ mit „seitenlangen Rechtsfolgebelehrungen“ würden ein Angst besetztes Verhältnis zum Jobcenter herstellen. Da würde es als psychologischer Trick erscheinen, dass man Post vom Jobcenter immer nur zum Wochenende bekommt. Am Wochenende könne man sich erst mal schön aufregen, auch weil man nichts machen kann und hat sich bis zum Montag wieder etwas beruhigt, wird die Aussage einer Interviewpartnerin zusammengefasst. Ein anderer Interviewpartner wird folgendermaßen zitiert: „Man ist immer froh und selig, wenn man mal keine Post von der ARGE hat. (…) Es ist ja nie wie früher: Oh ein Brief vom Arbeitsamt, vielleicht krieg’ ich einen Job. Nein, es ist immer: Ach Gott, was kommt denn jetzt. (…) Es ist ein Verhältnis, als wenn man zu seinem Fürsten geht. (lacht) Dieser alte Spruch: Genieße deinen Fürsten, wenn du nicht gerufen wirst, trifft voll auf die ARGE zu.“ Auch dies kann der Autor nur bestätigen, dass Post vom Jobcenter ganz überwiegend zum Wochenende kommt, mit den oben beschrieben und wohl auch beabsichtigten Effekten. ARGE steht übrigens in dem voran gegangenem Zitat synonym für Jobcenter bzw. für die früheren kommunalen Arbeitsgemeinschaften.
Als Fazit ziehen die Autoren der Studie, dass die Ebene der bürokratischen Abwicklung nicht durch Entgegenkommen und Unterstützung geprägt sei, sondern durch den Aufbau von Barrieren und Verzögerungen bei gleichzeitiger Missachtung der krisenhaften Lebenssituation der ALG-II-Beziehenden.
Aber auch auf der sog. Interaktionsebene würde sich das per se asymmetrische Verhältnis zwischen Jobcentern und ALG-II-Beziehenden in problematischer Weise manifestieren, denn die Kunden könnten sich nicht grundsätzlich darauf verlassen, dass ihnen Respekt und Höflichkeit entgegengebracht würde. So würde von Experten das Fehlen von verbindlichen Regeln im Umgang mit ALG-II-Beziehenden kritisiert werden. Es gäbe auch positive Erfahrungen mit Jobcentermitarbeitern, jedoch gleiche die Situation im Jobcenter aufgrund der fehlenden Wahlfreiheit der Kunden einem Glücksspiel, an welches Gegenüber sie geraten. Aussagen von Kunden wie folgende werden als typisch angeführt: „Ich stand neulich am Tresen und sag’, ‚Schönen guten Tag, mein Name ist Ebert’. ‚Ja Ihren Namen brauchen Sie nicht sagen, was wollen Sie?’ So wird man zum Beispiel angemacht unten (! d. V.) am Tresen.“
Ein herabwürdigendes Verhalten, das von ALG-II-Beziehenden als unhöflich, frech oder pampig beschrieben wird, trete nicht erst in Folge von Konflikten auf, sondern könne von Anfang an die Interaktion mit den Mitarbeitern der Jobcenter prägen. So wird von typischen Erfahrungen berichtet, wonach Kunden nicht zugehört würde, Aussagen nicht ernst genommen würden, Erklärungsversuche einfach abgebrochen würden, Kunden geduzt würden, während des Sprechens kein Augenkontakt gehalten würde (das andere Extrem, d. V.) und über anwesende Kunden in der dritten Peron gesprochen werden würde. Zudem dominiere häufig das per se vorhandene Machtgefälle zwischen Kunden und Mitarbeitern die Interaktion derart massiv, dass Aushandlungsprozesse oft schon im Keim erstickt würden. Zum Abschluss einer sog. Eingliederungsvereinbarung wurde folgende Äußerung eines Arbeitsvermittlers angeführt: „Wenn Sie das nicht unterschreiben wollen, das macht gar nichts, dann erlassen wir das als Verwaltungsakt, nicht dass Sie denken, dass Sie uns so davon kommen.“ Hier würde dem Kunden ganz klar das Recht einer aktiven Mitsprache und Beteiligung abgesprochen werden, was der Autor indessen nicht wirklich anders sehen kann. Und die knappe Antwort, „Dann klagen Sie doch“, die ein Alleinerziehender Kunde angesichts drohender Wohnungslosigkeit von einer Sachbearbeiterin erhalten habe, zeige, dass auch in gravierenden Notlagen mitunter jegliche Kommunikation und Unterhandlung unterbunden würde (vgl. ebd. S. 7). Expert/innen und ALG-II-Beziehenden würden gleichermaßen kritisieren, dass in den Jobcentern ein zu geringes Verständnis vorhanden wäre, dass Bürger/innen einen Rechtsanspruch auf Existenzsicherung СКАЧАТЬ