Название: Der große Reformbetrug
Автор: Udo Schenck
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783738045604
isbn:
Wann bin ich hier bloß raus? Die Anmeldungsschalter rücken nur in Trippelschritten näher. An manchen wird heftig gestikuliert, laut gehadert und der Kopf geschüttelt. Einige Kunden wenden sich mit noch längeren Gesichtern von den Schaltern ab, als mit denen sie gekommen waren. Wieder anderen sieht man die Erleichterung an, eine Hürde hinter sich gelassen zu haben. Plötzlich dringt aus einiger Entfernung Geschrei und Gekeife von einer jungen blonden Frau heran, das offenbar einem stämmigen Kunden, mittleren Alters gilt, der sich vorgedrängelt haben soll. So zeigt sich, dass diese Menschenschlange eben doch kein einziger, geschlossener Organismus ist, sondern aus einer Vielzahl Individuen besteht, die oft nicht miteinander können, sich nicht einig sind und nur ihren individuellen Vorteil suchen, wie der Vernunft abgewandte Hühner in einem Hühner-KZ (Ausdruck nach Stanislaw Lem, u. a. Sciencefiction-Autor, für Legebatterien), die sich gegenseitig rupfen und nicht wehren können, gegen die, von denen sie eingesperrt wurden. Schon ist ein Trupp Barettbewehrtes Sicherheitspersonal mit sichtlicher Einsatzfreude zur Stelle. Die Sicherheitsleute bauen sich vor den Widersachern auf, es gibt heftige Diskussionen, eine Rangelei, dann ebbt das Gezeter ab um noch einmal anzuheben und dann endlich zu verstummen. So wird der stämmige Mann auf engagiert rustikale Weise von den Wachleuten nach draußen bugsiert.
Ein Platzanweiser in Uniform, vor dem linken Ende der Schalter und dem Kopf der Menschenschlange, dirigiert die Kunden zu gelegentlich frei werdenden Schaltern. Nun sind nur noch fünf Schalter besetzt und die müden, langen Gesichter tröpfeln noch zähflüssiger zu ihnen hin; anscheinend beginnt jetzt schon die Mittagspause oder was auch immer. Endlich stehe ich direkt vor dem Platzanweiser und den Schaltern, und dies nach insgesamt fast eindreiviertel Stunden. Der Platzanweiser weist mich zu einem soeben frei gewordenen Schalter und in dem Bewusstsein es gleich geschafft zu haben und endlich nach Hause gehen zu können, begebe ich mich leichten Fußes dort hin. Über mir sitzt ein rühriger und vielleicht auch ein wenig zarthäutiger und flapsiger junger Mann, der gerade die Schulbänke hinter sich gelassen haben könnte, beseelt von dem Stolz in einem Praktikum die ersten Referenzen erwerben zu dürfen. In seinem Schatten sitzt eine bebrillte und strengmienige Frau mittleren Alters, die ein Auge auf sein Tun zu werfen scheint.
Ich sage: „Guten Tag.“
Der junge Mann reserviert: „Ihren Kundenausweis bitte“, ich reiche ihm den Ausweis hoch: „Bitte sehr“, der junge Mann schaut eine Weile auf den Bildschirm seines PCs:
„Was wollen Sie?“
„Ich möchte drei Dokumente abgeben und mir den Eingang auf den Kopien, die ich von den Dokumenten gemacht habe, von Ihnen bestätigen lassen“, ich reiche ihm die Papiere hoch.
„Hm, Originale nehmen wir aber nicht mehr entgegen, wir nehmen nur die Kopien“, entgegnete mein Gegenüber bestimmt.
Ungläubig sage ich nach einer Pause des gewahr werden Wollens: „Das verstehe ich jetzt aber nicht recht, schließlich will das Jobcenter das eine Dokument im Original haben und hat es ausdrücklich so verlangt. Ich habe jetzt hier doch nicht etwa bald zwei Stunden angestanden, nur um von Ihnen zu hören, dass Sie die angeforderten Unterlagen nicht haben wollen?“
Ich frage mich im Stillen was das jetzt nun wieder für neue Kapriolen sein sollen. Der junge Mann wendet sich ab und tuschelt mit der bebrillten Strengmienigen hinter ihm um sich nach einer Weile in unlustig und abfällig gefärbtem Tonfall erneut zu mir hinunter zu wenden: „Na gut, wenn Sie darauf bestehen“, stempelt die Kopien ab und reicht sie mir wieder herunter. Ich verzichte auf eine weitere Erörterung.
„War das alles?“
„Nein, noch nicht, ich möchte für drei Wochen in Urlaub gehen und mich deswegen abmelden.“
„Urlaub gibt es nicht“, kommt es schroff zurück, „Sie können sich bis zu drei Wochen im Jahr von Ihrem Wohnort entfernen. Dazu müssen Sie sich aber erst einen Termin bei Ihrem Vermittler geben lassen, der muss das genehmigen.“
Habe ich das eben wirklich richtig verstanden? Das muss doch wohl ein ganz schlechter Scherz sein. Ich kann es kaum fassen.
Ich sage: „Seit wann denn das, es war doch bisher immer möglich bei einem einmaligen Erscheinen im Jobcenter eine Genehmigung erteilt zu bekommen. Ich wollte vielleicht in spätestens zwei Woche verreisen, wie soll ich so eine Reise vorbereiten und planen können? Man kann ja so überhaupt keine Buchungen vornehmen. Dann geben Sie mir also bitte einen Termin bei meiner Arbeitsvermittlerin, ich kann sie ja nicht telefonisch erreichen.“
Mit spöttisch funkelnden Augen und gedämpft süffisanter Stimme, seine dumpfe, klammheimliche Schadenfreude nur unzureichend verbergend, gibt der junge Mann herunter: „Dafür müssen Sie aber erst in den Wartebereich B, ich kann Ihnen diesen Termin leider nicht geben.“
„Das ist ja Schikane, wie lange soll ich denn da noch warten?“
Mokant gibt der junge Mann zurück: „So sind eben die Gesetze!“
Es schießt aus mir heraus: „Auch die Nazis hatten Gesetze, in welchem Gesetz, bitte schön, soll denn das so geregelt sein?“
Der junge Mann nun vermutlich aus einer Art pawlowschem Reflex, bzw. einer künstlichen Empörung heraus: „Ich lasse Sie gleich vom Sicherheitsdienst hinausführen.“
„Weshalb denn, was soll das, habe ich etwas Falsches gesagt? Nun bleiben Sie aber mal auf dem Teppich.“
Siedenden Pulses wende ich mich nach den Formalitäten von dem milchgesichtigen, eifernden und geifernden Gernegroß ab und dränge zum Wartebereich B. In meinem Brass denke ich, da zeigt sich wieder einmal: Neue Besen kehren gut, Besen die geführt werden, meist an der Nase herum, die selbst keinen eigenen Kurs, kein Rückrat, keinen eigenen Kopf haben und darum umso „besser“ funktionieren.
Im Wartebereich B drängen sich die verdrossenen Gesichter noch dichter, aber man kann hier wenigstens sitzen, sofern man einen Platz abbekommt. Nach einer gestandenen viertel Stunde habe ich das Glück einen zu bekommen. Dadurch, dass dieser Raum kleiner und niedriger ist als der Empfangssaal ist es deutlich lauter und noch stickiger; hoffentlich überhöre ich nicht den Aufruf meines Namens. Von einer sich angeregt unterhaltenden Gruppe junger Leute dringt ein Schwall erregter Satzfetzen heran, wie: „Ich glaub ich bin im falschen Film. Die hatte doch überhaupt keine Ahnung…“, und: „Das ist hier ein volles Verarschungsprogramm, was die hier abziehen. Das habe ich so echt noch nicht erlebt…“
Noch immer bin ich mit der Szene am Schalter beschäftigt – dieser bräsige, blasierte Grünschnabel. Ich sollte jedoch fair bleiben. Letztendlich hatte der junge Mann scheinbar keine andere Wahl – in diesem Job – er musste so handeln. Aber das Wie und auch das Wo stehen doch auf einem ganz anderen Blatt. Wie ich später erfuhr, hat sich mit Einführung von Hartz IV die Praxis tatsächlich dahingehend geändert, dass man sich eine gewünschte Abwesenheit vom Wohnort nur noch von seinem persönlichen Arbeitsvermittler genehmigen lassen konnte. Das Problem ist, dass der bzw. die im Gegensatz zu früher nicht mehr direkt bzw. telefonisch erreichbar ist und man nun genötigt wird, sich unter allen Umständen mit ihm/ihr gut zustellen. Ferner muss man sich nun, ebenso im Gegensatz zu früher, umgehend am ersten möglichen Tag nach der Abwesenheit persönlich im Jobcenter zurückmelden. Die Frage ist wozu das gut sein soll, wenn dem Jobcenter der Zeitraum der Abwesenheit bekannt ist. Läge irgendetwas vor, eine Arbeitsvermittlung oder irgendeine Maßnahme, an der man teilnehmen soll, so würde man in jedem Fall schriftlich darüber benachrichtigt werden. Würde man darauf infolge einer nicht genehmigten Abwesenheit nicht reagieren, würden auch so Sanktionen in Kraft treten. So wird man gezwungen die Warteschlangen СКАЧАТЬ