Название: Till Türmer und die Angst vor dem Tod
Автор: Andreas Klaene
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783738062090
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»Moment! Machen Sie sich keine Sorgen, diese Geschichte ist längst völlig clean. Außerdem, mein Auftrag ist nicht irgendeiner. Das werden Sie schon noch feststellen. Da steckt eine Menge für Sie drin, weitaus mehr als Sie kalkulieren. Sie sollten also nicht so vorschnell urteilen, Herr Türmer.«
Till stand auf. Er sah seinen Gast an wie einen, der mit schwerem Gepäck zum Bahnsteig gehechelt kommt und feststellt, dass sein Zug ihm vor der Nase abgefahren ist.
»Herr Grossanter, Sie liefern mir nur Ihre Halbwahrheiten und begreifen nicht, wie unglaubwürdig Sie sich dadurch machen. Glauben Sie im Ernst, dass ich Ihnen helfen kann, wenn ich weiß, dass ich im Grunde nichts über Sie weiß? So kann aus Ihrem Plan nichts werden. Machen Sie’s gut!«
Er ging entschlossenen Schrittes durch die Hotelhalle, bezahlte beim Kellner seinen Kaffee und noch einen zweiten. Dann verschwand er hinter einer Tür.
Mit seinen dunkel glänzenden Marmorwänden bot ihm dieser weite Toilettenraum eine Art eleganter Klausur. Hier gab es keine scheinheiligen Gespräche, hier herrschte konzertante Stille, die durch leise Musik aus unsichtbaren Lautsprechern kam. Er hatte das Gefühl, sich die Hände waschen zu müssen, abzuspülen, was nach seiner Begegnung mit Grossanter an ihm klebte.
Till blieb vor der Wand am Ende des Raumes stehen. Er spürte, wie Gelassenheit sich in ihm ausbreitete. Seine Beine standen fest auf dem polierten Boden, er spürte seine Fußsohlen, genoss das Gefühl, am Pissoir mit jedem Atemzug mehr bei sich selbst anzukommen. Sein Blick haftete entspannt auf dem undurchsichtigen Glas eines auf Kipp gestellten Fensters, durch das das Tageslicht vom rückwärtigen Hotel-Parkplatz zu ihm schien.
Dann schaute er nach unten. Neben seinem rechten Fuß stakste eine Schnake auf ihren langen, zerbrechlich wirkenden Beinen über den dunkel glänzenden Boden. Ein Wesen, das an diesem Ort so fehl am Platz war wie ein Marco Grossanter, wenn er es sich in Tills Wohnzimmer gemütlichen machen würde. Er hob die Zehen an, schwenkte seinen Schuh langsam über das Insekt und senkte ihn wieder, bis es leise unter der Sohle knirschte.
Er war gerade im Begriff zu gehen, als die Stille plötzlich einen ganz anderen Klang bekam. Die Stimmen von zwei Frauen drangen aus allernächster Nähe zu ihm. Er schaute auf das Fenster, konnte die beiden durch das rubbelige Reliefglas schemenhaft sehen. Mit dem, was er dann hörte und belauschte, war inhaltlich zwar kaum etwas anzufangen, und doch scheuchte es sein Gehirn und seine Gefühle auf.
»Du willst doch jetzt nicht im Ernst wegfahren! Hast doch noch nicht mal ein Wort mit unserem Jubelpaar gesprochen.«
»Das muss aber sein«, sagte die andere mit einer merkwürdigen Bestimmtheit, in der allerdings nichts Hartes war. Stattdessen aber eine liebevolle Klarheit. So wie die einer Lieblingslehrerin, für die man sich gerne sogar an die unangenehmste Aufgabe heranmacht.
»Aber jetzt ist doch eh alles vorbei.«
»Wenn’s vorbei ist, heißt das aber nicht, dass alles zu spät ist«, hörte Till von der Lehrerinnenstimme.
»Keine Ahnung, was du damit meinst, ist auch egal, aber ich finde, dass du dir zumindest bis nach dem Essen Zeit lassen könntest.«
»Nein, Ute, ich muss zu ihr. Und zwar jetzt. Es geht doch nicht, dass sie da so allein liegenbleibt. Ich möchte erst einmal einfach bei ihr sein.«
Es war nicht nur Neugierde, die Till beim Belauschen dieses rätselhaften Gesprächs aufhorchen ließ. Er fühlte sich angezogen von der Frau, die nun gleich mit so unbedingter Bestimmtheit abfahren würde, und in ihm flimmerte die Frage herum, woher diese Anziehung kam? Schließlich kannte er die Frau überhaupt nicht. Ihr Aussehen konnte auch nicht der Grund sein, weil sie für ihn durchs geriffelte Fenster nur als ein diffuser Flecken auszumachen war. Lag es an ihrer geheimnisvollen Mission, an der liebevollen Klarheit, an ihrer Stimme?
Ja, ihre Stimme war nicht irgendeine. Er kannte dieses Timbre, diese Klarheit und Intensität. Und er ahnte, woher. Ihm kam eine Erinnerung, die das Rätsel auf der Stelle zu lösen schien. Sogleich mischte sich allerdings die Einsicht dazwischen, dass diese Lösung keine sein konnte. Sie war viel zu unwahrscheinlich. Till blickte zur Seite auf die Marmorwand. Er versuchte, sich nur auf das zu konzentrieren, was er hörte. Bilder rasten durch seinen Kopf. Sie waren etwa drei Jahre alt. Bilder von einem Frühlingsabend und einer Nacht. Von einer Leidenschaft, die so köstlich nach Weite und Unendlichkeit schmeckte und noch in derselben Nacht wie weggesperrt verschwand.
Deichnacht
Die Luft war warm, ungewöhnlich sommerlich für diese Jahreszeit. Till war von einem Schulfreund zum 35. Geburtstag eingeladen worden, auf einem ehemaligen Bauernhof direkt hinter dem Deich. Die große Scheune mit ihren uralten Balken war zum Festsaal herausgeputzt. Unter ihrem mächtigen Dach duftete es nach Heu und verlockender Weiblichkeit, vor dem offenen Holztor nach Barbecue und salziger Meerluft. Die Stimmung kam an diesem Abend wie eine schleichende Flut daher. Unmerklich umspülte sie die große Gesellschaft. Sie riss Leinen los und zog hinaus, was da war. Keiner schien sich zu fragen, wohin er trieb. Man ließ sich einfach mitreißen, genoss die Ziellosigkeit eines von den Wellen getragenen Treibholzes.
Auch Katrin ließ sich mit der Menge treiben. Als Till sie entdeckte, behielt er sie wie ein nächtliches Leuchtfeuer im Blick. Er musste nicht lange auf sie zusteuern, er kam im Handumdrehen bei ihr an. Die beiden hatten viel mehr Themen als Möglichkeiten, sie alle in dieser aufgedrehten Gesellschaft zu bewältigen. Tanzend verwandelten sie alles um sich herum zum rotierenden Nebel. Der Raum, die Menschen verschwammen zu farbigen Linien, dann zu einer bedeutungslosen Fläche, auf der nur sie existierten. Es war schon weit nach Mitternacht. Aufgefordert von Zuccheros mediterraner Stimme bewegten ihre Körper sich im Takt der sanften Rhythmen. Sie gingen auf Tuchfühlung und blieben dort. Till legte seine Hände um Katrins Hüften, und sein Mund touchierte ihre Wange, als wäre es nicht zu vermeiden gewesen. Der letzte Akkord war noch nicht ganz verklungen, als Katrin seine Hand nahm.
»Komm!«, sagte sie in einer liebevollen Klarheit, als wäre alles, was nun passieren würde, eine diskret abgemachte Sache. Sie gingen durch die hohe, weit offen stehende Scheunentür nach draußen, vorbei an ein paar Gästen, die um den runden Grill geschart im nächtlichen Schwarz standen. Sie hatten die längst schlummernde Glut für ein paar restliche Steaks noch einmal in Gang gebracht. Das Flackern der Holzkohle warf rotes Licht auf ihre müden Gesichter, die nicht so aussahen, als würden sie das Paar bemerken, das neben ihnen aufgetaucht war und sogleich in der Nacht verschwand.
Den letzten schwachen Lichtschein, der aus der Scheune drang, hatten sie bereits ein paar Meter hinter sich gelassen. Vor ihnen musste die lange gepflasterte Hofzufahrt liegen. Davon gingen sie jedenfalls aus, weil sie Stunden zuvor aus dieser Richtung gekommen waren. Doch jetzt versteckte sie sich wie ein schwarzer Schlund, in den sie sich ohne ein Wort vorsichtig tapsend hinein begaben. Sobald sie eingetaucht waren, streckte Till seine Hand nach Katrin aus und bemerkte, dass ihre schon nach ihm suchte. Er nahm sie, und seine Handfläche und jedes Glied seiner Finger waren dabei hellwach. Sie umschlossen die kleine Hand behutsam wie eine Form, aus der anschließend eine Bronze gegossen werden sollte.
Langsam schlichen sie durch die Dunkelheit. Fast blind hatten sie sich bereits so weit vom Hof entfernt, dass Musik und Stimmen verschwanden. Nur Füße waren noch zu hören, wenn sie vom gepflasterten Weg abkamen und die Steinchen im Gras zum Knirschen brachten.
Dann hielten sie kurz inne, sahen sich an und erkannten lediglich einen Scherenschnitt ihres Gegenübers, der sich kaum vom Nachtschwarz abhob. Aber mit jedem Meter, den sie gingen, СКАЧАТЬ