Der unheimliche "Erste Diener des Staates". Walter Brendel
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Название: Der unheimliche "Erste Diener des Staates"

Автор: Walter Brendel

Издательство: Bookwire

Жанр: Социология

Серия:

isbn: 9783754935156

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      Wir wissen nicht, ob Doris Schommer sich schriftlich wegen einer Entschädigung an den König wandte oder ob dieser von selbst Wiedergutmachung leisten wollte. Wieder einmal ist Voltaire die einzige Quelle, die von einer Pension für Doris berichtet. 70 ECUS seien ihr jährlich ausbezahlt worden, und zwar stets sehr pünktlich. Hier hat Voltaire offensichtlich preußisches Geld in die gängige französische Währung umgerechnet. Damals entsprachen 70 Ecus einer Summe von 210 Livres, wobei 1 Livre aus 0,30 Gramm Feingold bestand. In Frankreich konnte man für 40 Livres eine Kuh mit Kalb erwerben; eine vier- bis sechsköpfige Handwerkerfamilie benötigte jährlich etwa 1500 Livres zum Lebensunterhalt. Doris Schommers Zeitgenossen jedenfalls wunderten sich - wie wir noch sehen werden - über die geringe Unterstützung, die ihr zuteilwurde. Voltaire macht die o. e. Angaben in seinen Memoiren, um König Friedrichs Geiz zu belegen.

      1742 finden wir Franz Schommer in Berlin, wo er als „Materialiste“ - sprich: Trödler und Kolonialwarenhändler- sich kaum über Wasser halten konnte. Daher wandte sich Doris schriftlich an den König und bat um Hilfe „zum Aufbau eines Handwerks“. Sie erhielt ihren Brief postwendend zurück. An den Rand hatte Friedrich gekritzelt: „Ihr König kann nicht kreditieren, es muss sich ein jeder im Leben so fügen, wie Gott es gewollt!“ So machte sich der Herrscher zu allem Unglück offenbar noch lustig über den Glauben der Pfarrerstochter.

      1744 gab es in Berlin 20 Mietkutschen, deren Fahrer von 6 bis 22 Uhr unterwegs zu sein hatten. Ihre Beaufsichtigung oblag einem berittenen „Wagenkommissarius“, meist einem ehemaligen Unteroffizier, der auch die im Büro anfallenden Schreibarbeiten erledigte. Um diesen Posten bewarb sich Franz Heinrich Schommer in einem gemeinsam mit Doris verfassten Brief an den Polizeipräsidenten Karl David Kircheisen.

      Bei dem Namen Schommer wurde der Beamte hellhörig: er holte wegen der Besetzung dieses eher unbedeutenden Postens schriftlich die Meinung des Königs ein. Friedrich zeigte sich großzügig und befürwortete von Potsdam aus am 2. 4. 1744 die Einstellung von Doris' Ehemann.

      Leider brachte diese Arbeit dem frischgebackenen Kommissarius mehr Ehre als Geld ein. Die Kinderschar wuchs. Die Familie wohnte damals zur Miete in der Behrenstraße und gehörte zur evangelischen Kirchengemeinde von Friedrichswerder.

      Im selben Haus lebte auch der Gelehrte Johann Heinrich Samuel Formey (1711-1797) mit seinen Angehörigen. Er war Sekretär und Historiograph der Königlichen Akademie der Wissenschaften und auch er erwähnt Doris Schommer in seinen Memoiren (1789): „Sie behielt ein trauriges und krankes Aussehen und ihr Haushall schien an Armut zu leiden. Ich habe nie sicher erfahren können, ob der König ihr irgendeine kleine Pension zuteil werden ließ. Wie auch immer, als ich mich eines Tages darüber mit Herrn de Mauperluis unterhielt, mehrte sich dessen Erstaunen. Am Ende rief er aus: ,Wie ist das möglich? Ich hätte sie zur Äbtissin von Quedlinburg ernannt!“

      Auch Voltaire beweist, dass Doris Schommer in Berlin zwanzig Jahre nach den Ereignissen des September 1730 noch eine bekannte Person war.

      Man wies den Literaten auf der Straße diskret auf sie hin. In seinen „Erinnerungen“ (1784) beschreibt er sie so: „Eine groß gewachsene Frau, hager, die einer Sybille ähnelt und keineswegs das Aussehen besaß, dass sie verdient hätte, eines Prinzen wegen ausgepeitscht zu werden.“

      Zwar war die Armut, ständiger Gast im Hause Schommer, doch schaffte es das Ehepaar trotzdem, den äußeren Anschein aufrecht zu erhalten und mit gutbürgerlichen Menschen zu verkehren.

      Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. hatte nie einen Krieg geführt, sein Sohn Friedrich hingegen brach bald nach seiner Thronbesteigung durch die widerrechtliche Besetzung Schlesiens einen Krieg vom Zaun, der später einen weiteren nach sich zog. Insgesamt kosteten die beiden schlesischen Kriege auf preußischer Seite etwa 6500 Menschen das Leben. Zwischen 1756 und 1763 tobte dann der Siebenjährige Krieg, in dem das Land mehrfach am Rand des Untergangs stand und mehr als 42000 Tote zu beklagen hatte. Auch Familie Schommer lebte in Angst und Schrecken. Der älteste Sohn war als Armeelieferant tätig und trug für den König seine Haut zu Markte. Laut einer heute verschollenen Handschrift der Königlichen Bibliothek soll er um eine Audienz beim Herrscher nachgesucht und um Hilfe für seine Mutter gebeten haben. Friedrich der Große wies ihm daraufhin die Tür mit den Worten: „Ich kenne Sie gar nicht.“

      Berlin, Dorolheenstädtischer Friedhof an der Chauseestraße. Hier lag Doris Ritter begraben

      Den Friedensschluss zu Hubertusburg erlebte Doris Schommer allerdings nicht mehr. Im Alter von nur 48 Jahren erlag sie am 23.9. 1762 einer Brustkrankheit, wie es im Sterberegister heißt - vielleicht Brustkrebs oder Brustfellentzündung. Zurück blieben ihr Mann Franz Heinrich, der noch immer als Fiakerkommissarius arbeitete, und sechs Kinder. Man begrub sie als eine der ersten Personen auf dem neu angelegten Dorotheenstädtischen Friedhof an der Chausseestraße. Doch ihr Grab ist nicht erhalten; es musste Platz machen für reichere und berühmtere Leute. Nichts erinnert heute an diesem stimmungsvollen Ort an diese hochgebildete, musikalische, unglückliche Frau, deren Leben durch fürstliche Willkür unheilvoll beeinflusst und letztendlich zerstört wurde. König Friedrich der Große überlebte seine Jugendfreundin Doris Ritter-Schommer um 24 Jahre.

      ***

      Nun gut, das gibt Dorothea Selle zu, Könige haben ihre Launen. Auch mag es Friedrich als Despoten verdrossen haben, dass ihm Doktor Selle nicht von vornherein mit bedingungsloser Bewunderung entgegengetreten ist und dass er es bald darauf abgelehnt hat, Militärarzt zu werden und in Potsdam zu wohnen. Aber lächerlich ist doch, findet Dorothea, dass der König diesem Doktor Selle übelnimmt, glücklich verheiratet und Vater von drei gesunden Kindern zu sein! Und warum lässt der König seinen Doktor Selle, der ihm so gute ärztliche Dienste leistet, nicht in einer königlichen Kutsche abholen, wie jeden windigen Franzosen, der ihn besuchen will? I bewahre! Doktor Selle muss in der eigenen bescheidenen Kalesche nach Sans Souci fahren und auf diese Weise viele Stunden verlieren, die er sonst seinen anderen Patienten widmen könnte! Ernstlich übel aber nimmt es Dorothea dem König, dass es ihm zuwider ist, wenn ein Bürgerlicher auf wissenschaftlichem Gebiet etwas Besonderes leistet. Das hat nämlich Doktor Selle getan mit seinem „Ärztlichen Handbuch für die medizinische Praxis". Ist das Buch nicht sogar ins Französische übersetzt worden?

      Ja, das sind so Dinge, die Dorothea am König auszusetzen hat. Und er selber, Selle, wie steht es mit ihm?

      Je mehr sich der Wagen Potsdam nähert, umso nachdenklicher überprüft Selle seine Einschätzung des Königs. Immer ernster werden seine Gedanken, immer weiter wagt er sich mit seinen Überlegungen vor. Abstoßend findet er, dass Prinz Heinrich in seiner süffisanten Manier ihm kürzlich hin geplaudert hat: Seine Majestät der König verstehe von dem, was er unterschreibe, zwei Drittel überhaupt nicht mehr.

      Selle ist zu gerecht und klug, um sich nicht zu sagen, dass ein alter, schwerkranker Mann einfach aus Alters- und Krankheitsgründen nicht mehr der Held sein kann, der er einst gewesen ist. Darf man es ihm ohne weiteres anrechnen, wenn er durch persönliches Unglück, Krankheit und übermäßige Arbeit seine Sinnesart und sein Gefühlsleben so verändert hat, dass er ein launischer, kleinlicher Charakter oder, wie Schöning vorsichtiger sagt, ein „ungemein satyrischer Mensch" geworden ist? Aber als junger König hat da Friedrich nicht ganz Hervorragendes geleistet? Hat er nicht gleich nach seiner Thronbesteigung verkündet: „In Meinen Staaten kann jeder nach seiner facon selig werden"?

      Aber der König hat als junger Fürst ja auch noch ein anderes verfügt: „Gazetten, wenn sie interessant sein sollen, dürfen nicht genieret werden" und hat damit für Preußen die Pressefreiheit verkündet! Ach, diese scheinbare Pressefreiheit hat in Wahrheit nur ein halbes Jahr gedauert. Seit nunmehr vierzig Jahren besteht längst wieder das strenge Gebot, dass „in publicis nichts ohne höhere Erlaubnis gedruckt werden" darf. Und so scharf versieht der König die Zensur, und als solche Strafe СКАЧАТЬ