Название: Der unheimliche "Erste Diener des Staates"
Автор: Walter Brendel
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783754935156
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Hinzu kommt, dass der Minister Graf von Finckenstein Schöning anvertraut hat, der hannoversche Hof sei vor einigen Tagen endgültig gebeten worden, den hannoverschen Leibmedicus, den zur Zeit berühmtesten Arzt in Deutschland, den Doktor von Zimmermann, für einige Zeit nach Potsdam zu entlassen und ihn dem preußischen König zur Wiederherstellung seiner Gesundheit vorübergehend zur Verfügung zu stellen. Schöning ist überzeugt, dass der König keinen besseren Arzt als Doktor Selle finden kann. Er fühlt sich durch eine eigentümlich zurückhaltende Zuneigung diesem so viel jüngeren Mann verbunden, und es erscheint ihm nicht mehr als recht und billig, dass Selle, ehe ein zweiter Arzt ihn verdrängt, den König nochmals behandelt. Doktor Selle ist frühzeitig von Berlin aufgebrochen. Bei dem schlechten Zustand der preußischen Straßen braucht eine bescheiden bespannte Kalesche gut und gern fünf Stunden für die Fahrt nach Potsdam.
Der Junitag ist auch in der Frühe schon schwül. Doch Selle hat ja das Verdeck seines Wagens herunterklappen lassen und träumt nun während der langen Fahrt behaglich vor sich hin, wobei ein kleines Lächeln seine Lippen umspielt. Er denkt an die Unterredung, die er gestern Abend mit seiner Frau gehabt hat. Dorothea hat gemeint, er solle doch gelegentlich eine Situation herbeiführen, in der sich der König recht über ihn ärgern müsse.
Selle hat gelacht. „Damit er mich auf eine besonders grobe Weise zum Teufel schickt?"
„Wenn nur überhaupt! Etwas Besseres könnte dir gar nicht passieren ..."
Ja, seine Dorothea hat mancherlei am König auszusetzen, und dabei ist sie doch im Übrigen so begeisterungsfähig! Selle ist immer noch sehr verliebt in seine Frau. Es hat eine Zeit gegeben, wo es ihm abenteuerlich erschienen ist, eine so hübsche, kecke Berlinerin zu fragen, ob sie etwa seine Frau werden wollte. Das war, als er, geborener Stettiner, noch in Göttingen Medizin studierte. Aber Dorothea hat es dann auf eine für einen schwerfälligen Norddeutschen einfach unbegreiflich leichte und anziehende Weise fertiggebracht, dass sie eines Tages verlobt waren. Und bald danach konnte auch geheiratet werden. Selle, inzwischen Arzt mit eigener Praxis, akklimatisierter Berliner und längst kein schüchterner Bursche mehr, hat seine Frau später manchmal geneckt, sie habe etwas von Lessings unvergleichlicher Minna von Barnhelm an sich: wirklich wunderbar, wie diese Minna ihren Tellheim zum Liebesgeständnis zu bringen wüsste...
Von diesen Gedanken seines Medicus ahnt der König nichts und hätte sie sicherlich auch missbilligt. Sein Frauenbild war nicht das Beste.
Die heimliche Gefährtin
In den Lebensbeschreibungen Friedrichs des Großen findet sich hin und wieder der Name Dorothea Elisabeth Ritter (genannt Doris). Wenn überhaupt, so wird sie im Zusammenhang mit der gescheiterten Flucht erwähnt, die Friedrich als 18jähriger Kronprinz gemeinsam mit seinem Freund Katte unternehmen wollte. Im Lauf der anschließenden Verhöre kam Friedrichs Freundschaft zu Doris ans Licht und das 16 Jahre alte Mädchen geriet in den Verdacht, die Mätresse des Prinzen zu sein.
Eine schwer wiegende Anklage in einer Zeit, in der in den meisten deutschen Staaten außerehelicher Geschlechtsverkehr gesetzlich verboten war und die Mütter unehelich geborener Kinder streng bestraft wurden (zumindest bei Untertanen, die nicht dem Adel angehörten; höfische Kreise setzten sich über solche Bestimmungen nonchalant hinweg). Doch eine demütigende ärztliche Untersuchung bestätigte Doris Ritters Jungfräulichkeit. Auch fand sich nicht ein einziger Beweis dafür, dass sie in die Fluchtpläne Friedrichs eingeweiht gewesen war. Mehr ist in den meisten Fällen über Dorothea Elisabeth Ritter nicht zu erfahren. Nicht einmal ihre genauen Lebensdaten waren bislang bekannt. Es hat sich auch nur ein Mal - und zwar bereits 1869 - ein Autor in wissenschaftlicher Weise mit ihr beschäftigt. Dieser Aufsatz ist kurz, teilweise fehlerhaft und tendenziös im Ton - nach dem Motto: Wenn ein Bürgermädchen sich einbildet, zur Mätresse eines Preußenprinzen aufsteigen zu können, geschieht ihr ganz recht, falls die Sache misslingt und ihr bittere Folgen einbringt.
Doch wer war Doris R.? Tatsächlich nur das unbedarfte Kantorstöchterlein, als das sie in pseudowissenschaftlichen Darstellungen und Romanen geschildert wird? Aus einer armen Lehrerfamilie, die im Obskuren verschwand, nachdem sie einen Augenblick lang grell im Schlaglicht der Geschichte stand? Was wurde aus ihr? Versuchte der Jugendfreund Friedrich nach seiner Thronbesteigung, das seinetwegen erlittene Unrecht wieder gut zu machen?
Fragen, die nicht unbeantwortet bleiben müssen. Antworten, die eine erstaunliche und interessante Geschichte enthüllen: um einen streitbaren Vater, der seines Glaubens wegen Süddeutschland verlassen musste. Um ein Mädchen, das äußerst musikalisch und hoch gebildet war: man traute ihr die wahre Verfasserschaft einer gedruckt erschienenen Kirchenpredigt zu. Und Friedrich der Große pflegte Frauen in seiner Umgebung nur zu dulden, wenn sie geistreich, musisch veranlagt und belesen waren. Es ist schließlich auch die Geschichte einer Frau, die sich allen Widrigkeiten trotzig entgegenstemmte und die selbst zwanzig Jahre nach den aufwühlenden Ereignissen von 1730 in Berlin noch Stadtgespräch war. Kein Geringerer als Voltaire würdigte sie in seinen Erinnerungen.
Matthias Rieder, Sohn der Eheleute Johann Georg und Christina Rieder, wurde am 21.2.1689 katholisch getauft. Bald darauf siedelte die Familie nach Reichling in der Nähe des Ammersees über.
Lange hielt es ihn dort nicht. Schon am 19.4.1709 finden wir ihn in Jena an der Universität, von 1711-13 aufgrund ausgezeichneter Leistungen sogar als Stipendiat.
Schließlich setzte der junge Schwabe seine Studien in Halle fort, wo er sich am 13.6. 171 3 an der erst 1664 gegründeten Universität einschrieb. Matthias war fasziniert von der aufblühenden Bewegung des Pietismus, die in Professor August Wilhelm Francke (1633-1727) einen der bedeutendsten Vertreter hatte. Pietismus: das bedeutete echte, von Herzen kommende und praktisch umgesetzte evangelische Frömmigkeit. Im Alltag der Universität hieß das, dass Francke persönlich Studienberatung und -förderung betrieb. Zugleich arbeitete er als Pfarrer an der Georgenkirche von Glaucha, damals noch eine Vorstadt von Halle. Um das dortige soziale und wirtschaftliche Elend zu lindern, rief er ab 1695 die „Franckeschen Stiftungen“ ins Leben, die mit ihren vielfältigen Einrichtungen fast schon einen Ort für sich bildeten. Der Komplex umfasste nach und nach Schulen und Seminare, ein Waisenhaus, eine Buchdruckerei (die vieles finanzierte), Bibliothek, Apotheke, ein Hospital, ein „Naturalienkabinett“, ausgedehnte Gärten und vieles mehr.
„Wer von Leipzig kommt ohne Weib, von Jena mit gesundem Leib, von Halle ungeschlagen, der kann vom Glücke sagen!“ So lautete ein unter den Lernenden des 18. Jahrhunderts verbreiteter Spruch.
Dorothea Elisabeth Ritter, genannt Dons (1714-1762). Porträtzeichnung von Elly Strick nach historischer' Vorlage
Der Student Ritter muss bereits vor seiner offiziellen Einschreibung in Halle gewohnt haben, denn er verliebte sich dort in Maria Christina Hermann, die Tochter eines aus Schneeberg nach Halle zugewanderten, verstorbenen Schuhmachers namens Samuel Hermann. Noch als Student - ungewöhnlich genug - ließ sich Matthias mit ihr trauen. Die Beiden wurden am 21.9. 1712 von Pastor Janus in der Marktkirche Unser Lieben Frauen vermählt. Möglicherweise hatte Maria Christina beim Tod ihres Vaters etwas Geld geerbt, von dem das Paar bis zum Abschluss der Studien leben konnte. Bald schon wurden sie eine Familie. Am Mittwoch, dem 21. März 1714, kam das erste Kind der Ritters zur Welt. Es war eine Tochter namens Dorothea Elisabeth. Zu gegebener Zeit sollte sie für einiges Aufsehen sorgen.
Matthias Ritter arbeitete unermüdlich, um mit seinen Studien voran zu kommen und für die Seinen eine Existenz zu schaffen. 1715 legte er bei Johann Tobias Wagener eine Disputation vor, die den Titel trug „Meditaüo de variis excitandi ad virtutem mo-dis“. Sie erschien auch gedruckt und umfasste 38 Seiten. Es schien klar, dass er nicht mehr in die ursprüngliche СКАЧАТЬ