Название: Blühende Zeiten - 1989 etc.
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Roman
isbn: 9783752925869
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Er springt.
Mit einem harten Schlag, ähnlich einem Bauchplatscher, landet Veit auf den Gleisen. Er spürt nichts, keinen Schmerz, keine Angst. Er hebt den Kopf etwas und blickt zur Seite, wo er den Zug direkt auf sich zurasen sieht, ganz nah. Er kneift die Augen fest zu und schreit, so laut er kann, während er auf den tödlichen Schlag wartet.
Er hört zu schreien auf, als die Bahn über ihn hinwegrast und der Schock ihn aus dem Wodkarausch wachrüttelt. Blitzschnell wird ihm klar, dass er noch nicht tot ist. Er riecht erhitztes Metall und ist noch zu einer Überlegung in der Lage. Er muss nur noch kurz den Kopf aufrichten, um von der Unterseite der über ihn hinwegschießenden Bahn erfasst zu werden.
Er will sich zwar aufrichten, kann es aber nicht. Er bemerkt, wie sich die Bahn verlangsamt und hört das Kreischen der Bremsen. Und dann kommt der Schmerz mitsamt einem starken Ohrensausen. Der Schmerz ist unmenschlich. Solch einen Schmerz hat Veit noch nie verspürt. Er versucht die Lippen zu bewegen, um etwas herauszuschreien, aber er kann nur flüstern: „Helft mir … Hilfe …“
Dann plötzlich verschwinden die Schmerzen wie von Zauberhand, und er spürt eine ungeheure, wohltuende Wärme, die ihn flutet und beruhigt. Er weiß, dass er jetzt endlich sterben wird und schließt erleichtert seine Augen. Es ist vollbracht, aus und vorbei. Endgültig. Gott sei Dank.
Um diese Zeit herum, zwischen fünf und sechs Uhr abends am Neujahrstag, verabschiedeten Emma und ich unsere Verwandten und wünschten ihnen noch einmal ein glückliches und gesundes neues Jahr. Meine Eltern gingen nach oben, Lollo musste meinen Vater stützen, weil er ihr wackelig vorkam. Emma und mir war es nicht aufgefallen.
„Sie ist überbesorgt“, meinte Emma.
„Er baut rapide ab“, sagte ich. Ich schaute nachdenklich aus dem Fenster. Die Außentemperatur betrug 3,8 Grad, wie unser Thermometer am äußeren Fenstersims anzeigte. Es war regnerisch, ein ungemütliches Wetter. Ich dachte nicht an Veit, der im Gleisbett seinen Tod sehnlich erwartete. Warum auch? Ich dachte nicht an früher, nicht an alte Freundschaften. Ich wusste nichts von Veits Schicksal, hatte jahrelang nichts von ihm gehört.
Meine Gedanken waren schon in der unmittelbaren Zukunft, bei der GTU; ich dachte an unternehmerische Ausbaumöglichkeiten, an neue Kursangebote und an das zukünftige Umweltzentrum, das ich schon in drei Monaten gründen würde. Eine Gästeliste und ein Kulturprogramm waren zu erstellen, und ich musste die Einladungen an die vorgesehen Redner zur Einweihung des Zentrums vorbereiten. Ich dachte an meinen morgigen nächsten Arbeitstag, denn ich hatte im Gegensatz zu meinen Mitarbeitern keine Weihnachtsferien. Aber ich würde mir die Arbeitszeit familienfreundlich einteilen.
Morgen würde ich erst nach einem ausgiebigen Frühstück ins Büro fahren. Die Fahrt durch die Stadt würde stressfrei sein. Keine langen Autoschlangen vor Ampeln, kein Wettbewerb darum, wer bereits bei Orange einen fulminanten Start hinlegen würde, um mit kreischenden Reifen eine Nasenlänge vor mir die Spur zu wechseln. Um sodann festzustellen, dass vor der kommenden Kreuzung genau auf dieser Spur bereits ein Auto steht, um schließlich noch einmal schnittig die Spur zu wechseln, um endlich an der nächsten Kreuzung mit langgezogener Fresse und angezogener Handbremse genau neben mir wieder zum Stehen zu kommen.
Wie es meine Art war, legte ich mir ausführlich meine Planung stichpunktartig zurecht. Ich würde gegen ein Uhr zum Mittagessen nach Hause fahren. Dann wieder zurück ins Büro und bis zum Nachmittagskaffee arbeiten. Danach werde ich Emma kurz im Haushalt helfen. Ich werde mit Karola und Luca spielen, sie später gegen neunzehn Uhr ins Bett bringen, ihnen etwas vorlesen, und wenn sie schlafen, werde ich mit meiner Frau die Kursplanungen für das kommende Jahr zu Papier bringen. Dazu werde ich aus dem Büro einen großen Papierkalender mitbringen, obwohl Pinkus, mein guter alter Klassenkamerad und Freund und jetziger EDV-Berater, meinte, wir könnten das viel praktischer auf dem Macintosh machen. Aber Emma und ich trauten uns noch nicht. Grafik, Tabellen und Diagramme – das waren für uns noch heilige Kühe, an die wir uns nicht heranwagten.
Ich nahm mir vor, in den nächsten Tagen die Eröffnung des Umweltzentrums Rhein-Main auch inhaltlich exakt vorzubereiten. Meine Rede musste ich endlich konzipieren. Nächste Woche würde ein neues Umweltunternehmen unter dem Dach der GTU in Angriff genommen. Vier Dozenten hatten sich selbständig gemacht und das Umweltinstitut Offenbach als GmbH gegründet. Sie wollen Planungsaufgaben, Gutachten und Laboranalysen für Kommunen, für Klein- und Mittelbetriebe anbieten.
„Wir werden eine tolle Kooperationsgemeinschaft bilden“, hatte ich zu Emma gesagt.
„Aber wie willst du die Lehrkräfte auf Dauer ersetzen? Die vier fallen ja weg.“
„Sie bleiben ja für ein halbes Jahr noch als GTU-Beschäftigte dem Unterricht erhalten. Damit haben sie einen leichteren Start in die Selbständigkeit und wir haben somit keine akuten Nachwuchssorgen. Denn Dozenten wachsen in unseren Akademikerkursen nach wie in einem ökologischen Treibhaus. Darum ist mir nicht bange.“
Locker bleiben bei Lockerbie
Eigentlich begann für uns das neue Jahr harmlos und unschuldig, wenn man von einigen Merkwürdigkeiten absah. Eine dieser Ungereimtheiten kam zutage, als ich erfuhr, wer sich an Bord der am 21. Dezember 1988 abgestürzten Pan Am 103 über dem schottischen Lockerbie befunden hatte. Eine Bombenexplosion hatte den Absturz des »Jumbo«-Großraumflugzeugs herbeigeführt. 281 Menschen waren dabei ums Leben gekommen. Darunter war Olof Palmes engster Vertrauter und politischer Weggefährte, der schwedische Diplomat Bernt Carlsson.
Ich hatte den Mord am schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme, jenem aufrechten politischen Fanal für Frieden und Antiimperialismus, für weltweite soziale Gerechtigkeit und Ost-West-Ausgleich, nicht nur zutiefst bedauert, sondern auch jede kleine Meldung zu den Ermittlungen verfolgt und in meinem Archiv gesammelt.
Schließlich fiel in diesem Mordfall nicht nur die Nähe der NATO-Geheimarmee Gladio zum Mordgeschehen auf. Der schwedische Arm dieser antisozialistischen Terrortruppe hatte im Skandia-Gebäude, ein paar Schritte vom Attentatsort entfernt, jahrelang seine Zentrale. Schwedische Investigativ-Journalisten waren zu der Auffassung gelangt, das Gebäude habe zu dieser Zeit ein CIA-Verbindungsbüro beherbergt.
Der führende CIA-Offizier Vincent Cannistraro sei während des Mordes im Skandia-Gebäude gewesen und habe von dort aus die Überwachungsoperation geleitet. Einer der Stay-behind-Kommandanten habe zur Zeit des Attentates auf Palme einige Meter vom Tatort entfernt eine Tür zum Gebäude offengehalten – als ob man jemandem eine Fluchtmöglichkeit geben wollte. In den offiziellen Ermittlungen heißt der Unbekannte nur „der Skandia-Mann“ – seine wahre Identität wurde nie ermittelt.
Olof Palmes Vertrauter, der schwedische Diplomat Bernt Carlsson, hatte mehreren Personen erzählt, er kenne die Hintergründe des Palme-Mordes und werde sie demnächst preisgeben. Er kenne die Geheimdienstagenten jener Staaten, die gemeinsam den Mord an dem schwedischen Friedenspolitiker geplant hätten. Und eben dieser Diplomat hatte sich an Bord der abgestürzten Maschine befunden. Das war es, was mich auf Anhieb stutzig machte. Er hatte zu Palmes engsten Weggefährten gehört und war Mitglied seines persönlichen Stammtisches gewesen.
In den ersten beiden Wochen des neuen Jahres überschattete das Lockerbie-Attentat alle anderen weltpolitischen Ereignisse. Hintergrund war die Auseinandersetzung, die Großbritannien und die USA gegen das blockunabhängige Libyen führten. Die westlichen Großmächte bezichtigten Muammar al-Gaddafi als Drahtzieher des Flugzeuganschlags; es habe sich um einen Racheakt für die amerikanische Bombardierung von Tripolis im April 1986 gehandelt.
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