Название: Blühende Zeiten - 1989 etc.
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Roman
isbn: 9783752925869
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Endlich war Feierabend und ich froh, nicht nach dem Vorlesen eingeschlafen zu sein.
Emma und ich machten uns einen gemütlichen Abend und schalteten das Fernsehen an. „Schau mal, da läuft was über Ton Stein Scherben“, rief Emma. Es lief gerade ein Beitrag über die Scherben, hauptsächlich aber über Rio Reiser. Ich schaute fasziniert in den Kasten, sah ich doch nach Ewigkeiten wieder einmal meinen alten Bekannten aus Berliner Zeiten.
Da sitzt Rio mit seiner Gitarre unter einem Baum, schaut versonnen in die Kamera und antwortet auf die Frage des Reporters, wo er seine Heimat hat: „Falls mich jemand sucht, meine Heimatadresse kann ich angeben: Ich wohne am äußeren Ende eines Spiralnebels namens Milchstraße im System Sonne, Planet Erde.“
Natürlich wussten wir, wo sein Zuhause war, nachdem er Westberlin verlassen hatte. Er wohnte jetzt im Norden Deutschlands, in Fresenhagen. Seine echte Heimat aber war es nicht, die musste er sich ersingen. Er hatte es getan, und über den Tag hinaus waren seine Lieder für viele zu einer Heimat geworden, die es früher nur als Schnulze gab. Wir hörten uns noch seine Songs an, die zwischendurch und im Abspann gespielt wurden. Ich fand seine Ballade Für immer und Dich am schönsten. Dann spielte er aus dem Album »Blinder Passagier« den Song Ich denk an Dich.
Ein Toter wacht auf
Ich konnte nicht an meinen ein Jahr älteren Kumpel Veit Herrmann denken, weil ich nicht wusste, was geschehen war. Auch hatte er niemals mit mir über Suizid gesprochen. Er war mir als lebenslustiger Kumpel in Erinnerung.
Zwei Wochen sind inzwischen vergangen. Veit hört eine Stimme. Nein, es sind mehrere. Er bemüht sich herauszufinden, woher sie kommen, kann sie aber nicht lokalisieren. Langsam öffnet er die Augen; alles um ihn herum erscheint verschwommen. Wieder hört er diese eine Stimme, die Stimme einer Frau, ganz in seiner Nähe.
„Ich glaube, er kommt zu sich …“
Er begreift sofort, dass er von »irgendwo« zu sich kommt, aber nicht von woher und warum und weshalb er überhaupt etwas hört und nicht sieht. Wo könnte er sein?
„Herr Herrmann? Können Sie mich hören?“
Die Stimme klingt amtlich und bemüht sachlich. Was will diese Frau von ihm, wer ist sie, in wessen Auftrag handelt sie? In den grauen Schleiern, die ihn umgeben, bewegt sich ein Schatten. Er könnte zu der Stimme gehören, die zu ihm spricht.
„Verspüren Sie Schmerzen?“
Veit versucht nachzudenken, aber das Denken fällt ihm schrecklich schwer. Er fragt sich, warum er Schmerzen haben sollte. Er fühlt sich unergründlich schwach, aber Schmerzen? Nein, ihm tut nichts weh. Also schüttelt er den Kopf, was ihm genauso schwer fällt wie Denken.
„Herr Herrmann, Sie haben sich vor zwei Wochen vor einen Zug geworfen …“
Wohin hat er was geworfen? Veit muss lange und tief in seinem Gedächtnis buddeln, ehe es Klick macht. Ja, er wollte springen. Vor eine S-Bahn wollte er springen. Wann? Er weiß es nicht mehr. Alles scheint eine Ewigkeit her zu sein. Tatsächlich, so dämmert ihm, hat er sich schließlich vor einen durchrauschenden Zug geworfen.
„Sie waren lange im Koma. Sie sind jetzt sicher. Sie sind im Krankenhaus. Wir haben Sie operiert“, sagt die Frau, die Veit immer noch nicht sehen kann und von der er nichts weiß, außer dass sie mit ihm spricht wie eine Krankenschwester. Eine Krankenschwester! Sie wird eine Krankenschwester sein. Oder eine Ärztin.
Im Schneckentempo entwickelt sich ein Szenario in seinem Kopf. Er begreift, dass er irgendwann tatsächlich gesprungen war und der Zug über ihn hinweg gerast war. Und jetzt war er im Krankenhaus. Er war nicht tot.
„Wir mussten Sie operieren. An den Beinen.“
Diese fast gütig klingende Bemerkung jagt ihm einen ungeheuerlichen Schrecken ein. Veit hat sich die oft leidvollen Jahre hindurch mit regelmäßigem Joggen und Schwimmen emotional über Wasser gehalten und den tiefen Depressionen tapfer die Stirn geboten. Sein Leben konnte er nur noch mit Sport halbwegs am Laufen halten – alles andere war eine tägliche Qual. Diese OP kann gewiss nichts Problematisches gewesen sein, denkt er. Seine Beine haben immer viel ausgehalten.
Die Augen fallen ihm zu, und Veit döst weg. Als er sie wieder öffnet, weiß er nicht, ob er ein paar Sekunden, einige Minuten oder vielleicht auch länger geschlafen hat. Er verspürt starken Durst und versucht etwas zu sagen.
„Sie sind an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Sprechen geht im Moment noch nicht“, sagt die weibliche Person. „Ich gebe Ihnen einen Stift. Augenblick bitte.“
Etwas raschelt, er hört Schritte. Dann drückt ihm jemand einen Stift in die linke Hand. Er stöhnt und versucht den rechten Arm zu heben.
„Das geht noch nicht, Herr Herrmann. Ihr rechter Arm ist gebrochen, aber er heilt gut.“
Man hat an meinen Beinen rumgedoktert, mein rechter Arm ist gebrochen und ich kann nicht sprechen, denkt Veit. Er kann sich nicht vorstellen, dass es ihm irgendwie schlecht gehen soll; er spürt noch immer keine Schmerzen. Die grauen Schleier rund um ihn herum lösen sich allmählich auf und mit ihnen verwandelt sich der Schatten, der immer deutlicher als eine konkrete Person in einem weißen Kittel zu erkennen ist. Die Frau ist eine Krankenschwester, wie Veit vermutet hatte, und sie drückt ihm jetzt einen Stift in die Hand und hält ihm einen Schreibblock hin.
Veit strengt sich übermenschlich an. Ganz langsam, unregelmäßig auf dem Papier abrutschend, kristallisiert sich ein Wort heraus: »Kaff …«.
„Wünschen Sie Kaffee?“, fragt die Schwester.
Veit versucht zu nicken und weiß nicht, ob sie es sieht.
„Du brauchst jetzt nichts sagen“, sagt plötzlich eine ihm sehr bekannte Stimme. „Veit, kannst du mich sehen und meine Stimme erkennen?“, fragt die Stimme, die früher, in seinem anderen Leben, zu seiner Freundin gehört hatte.
Die Stimme kommt von der anderen Seite des Krankenbettes. Er dreht den Kopf zu ihr.
Ja, ich nehme dich wahr!, will er sagen. Obwohl es sinnlos ist, versucht er es.
„Liebster, ich bin es, Mariola; du brauchst nichts zu sagen“, sagt sie leise. „Es geht noch nicht mit dem Sprechen, weil du einen Schlauch im Mund hast. Aber ich bin hier mit deinen Eltern.“
Wer hat sie informiert?, denkt Veit. Er will dringend etwas fragen und schreibt »Bein« auf den Schreibblock, den jetzt Mariola festhält, während seine Mutter ihm den Stift abnimmt und seine Hand hält. Dann hört er seine Mutter sagen: „Mein Sohn, wir müssen dir sagen, dass deine Beine nicht mehr da sind.“
Veit glaubt, sie nicht richtig verstanden zu haben. Wie können seine Beine weg sein, während er noch lebt?
„Die Bahn ist über deine Beine gefahren und sie sind weg“, sagt seine Mutter und streichelt ihm die Hand.
Er erkennt seinen Vater, der hinter der Mutter steht und still weint, aber nichts sagt. Veit ist schockiert und von der Vorstellung, ohne Beine zu sein, völlig überrascht. Auch er weint jetzt, beruhigt sich aber gleich darauf wieder. Er will es seinen drei Besuchern nicht so schwer СКАЧАТЬ