Название: Wicherns Genossen der Barmherzigkeit – Diakone des Rauhen Hauses
Автор: Karlheinz Franke
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783738039672
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Das ganze Leben im Rauhen Haus war mir lieb geworden und hat mich tief geprägt. Die religiöse Wärme war unaufdringlich, aber immer gegenwärtig. Die Morgen- und Abendandachten im Betsaal, die Wichern sehr oft selbst hielt, haben meinem Leben die Richtung gegeben. Besonders eindringlich wusste Wichern die Festzeiten, besonders die Weihnachtszeit zu gestalten. Sehr schön war es, wenn in der Adventszeit jeden Sonntag auf dem Kronleuchter ein Licht angesteckt wurde. Wir hatten einen kleinen und einen großen Knabenchor, die sehr schön sangen. Etwa 10 Tage vor dem Fest zogen die Jungen in den Wald, um Moos und anderes Material für den Bau einer Krippe zu holen, die der Sattler Colditz mit Pappe ausgekleidet hatte. In der Adventszeit zog der kleine Chor mit seinen Liedern auf Betteltour zu den Kaufmannsfamilien, die dem Rauhen Haus nahe standen und führte eine Sammelbüchse mit sich. Sie brachten oft reiche Geldbeträge heim. Außerdem hatten die Familien des Rauhen Hauses auch Patenschaften bei bedürftigen Leuten in der Stadt übernommen, die sie zu Weihnachten beschenkten. Diese Bescherten hatten dabei nicht den Eindruck, dass sie Nehmende waren, sondern dass sie geehrt wurden. Am Heiligen Abend gingen alle Jungen zur Christmette in die Hammer Kirche. Während dieser Zeit baute der Familienbruder den Gabentisch auf. Die Gaben stammten meistens von den Eltern. Wo Eltern nichts schicken konnten, stiftete das Rauhe Haus Geschenke aus Spenden, so dass sich kein Junge zurückgesetzt zu fühlen brauchte. Frau Wichern sorgte als gute Hausmutter dafür, dass für jeden Jungen das Fest zu einem Freudentag wurde. Nach dem Festessen kam die Bescherung der Brüder. Die Knaben, etwa 300 an der Zahl, wurden derweil für eine Stunde in der Turnhalle versammelt. Ein Bruder las ihnen eine weihnachtliche Geschichte vor und sang mit ihnen. Das war keine ganz leichte Aufgabe, die ich auch einmal zu erfüllen hatte. Die Bescherung der Brüder nahm Frau Wichern selber vor. Wir bekamen praktische Dinge, wie Bücher, Wäsche und dergleichen. Wer bei dieser Gelegenheit einen Reisekoffer bekam, konnte annehmen, dass seine Entsendung in naher Zeit bevorstand. Der erste Feiertag verlief still. Am zweiten Feiertag wurde ein Rundgang durch die Anstalt gemacht und die Krippen in den Familien besichtigt. Die Familie mit der schönsten Krippe bekam ein Geschenk als Prämie.
Ich war nun 29 Jahre alt und seit 5 ½ Jahren im Rauhen Haus. Es bestand die Vorschrift, dass sich kein Bruder verloben durfte, bis seine Entsendung in Aussicht stand. Als ich eintrat und von Wichern gefragt wurde, wie es damit bei mir stünde, sagte ich ganz offen: „Verlobt bin ich nicht, aber ich weiß bereits, mit wem ich mich einmal verloben werde, wenn es soweit ist.“ 1893 war ich ins Rauhe Haus eingetreten. Nach vier Jahren, 1897, erhielt ich die Genehmigung, mich zu verloben. Ich fuhr dafür nach Wiesbaden zu meiner Braut. Wir kannten uns nun schon über 7 Jahre. Jetzt, nach 5 ½ Jahren, sollte ich ins Syrische Waisenhaus nach Jerusalem berufen werden. Dazu war jedoch Bedingung, dass ich noch einige Jahre unverheiratet bleiben sollte. Mit Rücksicht darauf, dass wir nun schon so lange aufeinander gewartet hatten, musste ich dieses Angebot jedoch ablehnen, und Wichern verstand es und sandte einen anderen Bruder in diese Stelle. Nach einiger Zeit wurde aus Bremen ein Stadtmissionar verlangt.
Stadtmissionar in Bremen – ab 1.05.1899
Ich hatte an alles andere eher gedacht, als Stadtmissionar in einer Großstadt zu werden. Wegen meiner praktischen Begabung hatte ich mit einer Heimleitung gerechnet, auch schon im Hinblick auf meine Verlobte, die ja in diakonischen Anstalten gearbeitet hatte. Aber es half alles nichts. Wichern sagte: „Sie fahren nach Bremen und stellen sich vor, und es wird schon gehen.“ So fuhr ich im Februar 1899 nach Bremen und suchte den dortigen Vorstand auf. Einen Inspektor der Inneren Mission gab es damals noch nicht. Pastor Cuntz von St. Pauli (Neustadt) vertrat die Sektion Stadtmission. Ihn besuchte ich zuerst. Als er hörte, dass ich aus Nassau sei, sagte er: „Da komme ich auch her.“ Und damit war die Sache eigentlich in Ordnung. Weiter sagte er zu mir: „Setzen Sie sich auf Ihr Sofa.“ Als ich ihn fragend ansah, erwiderte er: „Dieses Sofa schenke ich Ihnen für Ihren künftigen Haushalt.“ Damit hatte ich nicht nur eine Anstellung gefunden, sondern auch ein Sofa. Es war ein altes Stück mit einem defekten Überzug, aber mit einem wundervollen Gestell, um welches ich später oft beneidet wurde.
Aber es hatte noch der Vorsitzende der Inneren Mission in Bremen, Landgerichtsdirektor Carstens, sein Ja-Wort zu geben. Ich suchte ihn auf. Er war der typische vornehme, gütige Bremer Richter, der schon durch seine ganze Persönlichkeit Ehrerbietung erheischte. Er ließ mich in einen Schaukelstuhl neben seinem Schreibtisch setzen. Das Biest wollte gar nicht stillstehen und irritierte mich, während ich aus meinem Leben erzählen sollte. Ich wurde dann freundlich mit dem Bescheid entlassen, dass ich bald wieder von ihm hören werde. So erfolgte dann auch meine Berufung zum 1. Mai 1899 als Stadtmissionar in Bremen, wo ich den Bezirk Gastfeldstraße übernehmen sollte.
Diesen Bezirk hatte bisher Bruder Konrad Drojewski betreut, aber nun einen neuen Bezirk in der Bahnhofsvorstadt übernommen. Da er aber zunächst noch die zu meinem neuen Bereich gehörige Wohnung in der Kinderbewahranstalt inne hatte, nahm ich vorläufig meine Wohnung in der Herberge 2 an der Schlachte. Hier hatte ich ein kleines Zimmer mit einem Bett und dazu meinen Schließkorb, was mir völlig genügte. Bald zog ich aber zu Bruder Palm in die Süderstraße, bei dem ich Wohnung und Verpflegung hatte, auch dann noch, als Drojewski die Wohnung frei gemacht hatte. Das erste Halbjahr wurde als Probezeit angesehen, und bis dahin musste ich unverheiratet bleiben. Bruder Palm hatte ich bei meinem Eintritt ins Rauhe Haus kennen gelernt. Er war Gehilfe in der Arbeiterkolonie Lühlerheim und dann später als Stadtmissionar nach Bremen berufen worden. Ich hätte damals nicht gedacht, dass wir uns hier in Bremen wieder treffen würden.
Bruder Drojewski sollte noch 14 Tage mit mir zusammen sein und mich einführen. Er redete den ganzen Tag so auf mich ein, dass mir abends der Kopf weh tat. Er meinte es gut und war überzeugt, dass er mir damit einen großen Dienst tun würde. Wir besuchten viele Leute, auf die es in der Arbeit besonders ankam. Dazu gehörten die zwei Pastoren der St. Pauli- und der Jacobi-Gemeinde, sowie auch andere Pastoren, die mit uns zusammen arbeiteten. Er erklärte mir auch den Unterschied zwischen den lutherischen und den reformierten Gemeinden. Ich sollte mir alles notieren und möglichst auswendig lernen. Dies hielt ich jedoch für höchst überflüssig, aber es musste zunächst geschluckt werden. Beim Besuch eines Bauern, der sehr wortkarg war, sagte Drojewski zu mir: „Wenn du aus dem fünf Worte herausbekommst, kannst du etwas.“ Wir kamen hin, bekamen ein Glas Wein vorgesetzt, und Drojewski führte das Wort. Der Bauer nickte nur und schwieg still vor sich hin. Beim Hinausgehen fragte ich den Bauern, ob er mir nicht einmal seinen Viehstall zeigen wolle, ich sei vom Lande und hätte Tiere gern. So kam ich mit dem wortkargen Bauern in ein anregendes Gespräch über das Vieh.
Ich hatte die Aufgabe, in Gemeinschaft mit den Pastoren Cuntz und Leipold von St. Pauli die Vereine, Gemeindekreise und Kindergottesdienstarbeit zu übernehmen. So hatte ich einen Jünglingsverein, einen Bläser- und einen Männerchor. Der Anfang war nicht leicht. Ich hatte wohl ein Gefühl für Musik, aber mir fehlte die Ausbildung. So musste ich jede freie Stunde einsetzen, das Fehlende nachzuholen. Im Kindergottesdienst hatte ich den alten Auswanderermissionar Krone zur Hilfe. Gleichzeitig mit der Arbeit in der Gastfeldstraße hatte ich auch meinen Dienst an der St. Jacobi-Gemeinde. Während ich in der Gastfeldstraße mit Pastor Müller zu tun hatte, war ich hier mit Pastor Valkmann zusammen. Wir wechselten uns mit den Bibelstunden ab, und zwar einmal im Gemeindehaus der Jacobi-Gemeinde, zum anderen in der Schule Kattenturm.
Da man in Bremen mit meiner Arbeit zufrieden war, stand unserer Verheiratung jetzt nichts mehr im Wege. Meine Braut, die eine verantwortliche Stelle in einem Haushalt in Wiesbaden hatte, war im Sommer 1899 nach Hause gegangen, um ihre Aussteuer fertig zu machen und alles für die Übersiedlung nach Bremen vorzubereiten. Die Hochzeit sollte in der zweiten Septemberhälfte stattfinden. Da erhielt ich plötzlich die Nachricht, dass die Mutter meiner Braut an Herzschlag verstorben war. Unglücklicherweise lag ich mit einer Magen-Darm-Erkrankung im Bett, machte mich aber trotzdem auf die Reise nach Koblenz, um bei der Beerdigung dabei zu sein. Nach der Beerdigung berieten wir, wie wir es mit der Hochzeit halten wollten. Wir fanden es richtig, uns dort in Koblenz ganz still trauen zu lassen und anschließend nach Bremen zu fahren. Unsere Papiere СКАЧАТЬ