Название: Neue Zeiten - 1990 etc.
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Roman Band 7
isbn: 9783753185569
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„Wäre es Ihnen eventuell möglich als Vermittler beim Offenbacher Amt anzuklopfen und zu fragen, ob zumindest der hier in Frankfurt genehmigte Stundensatz für die Offenbacher akzeptabel ist. Dann wäre ja die Kuh vom Eis“, bat ich fast flehend.
„Ich kümmere mich darum und rufe Sie dann an.“
Der Anruf erreichte mich zwei Tage später. Nein, leider habe er seinen Amtskollegen nicht umstimmen können. Offenbach bliebe hart, man lasse es auf einen Musterprozess ankommen.
Vor dem Frankfurter Römerberg steht der Gerechtigkeitsbrunnen. Der Justitia-Brunnen ist ein Wahrzeichen der Stadt. Die Justitia steht erhobenen Hauptes mit geschlossenen Augen auf einem Sockel. In der linken Hand hält sie eine beidseits ausgeglichene Waage, ihre Brüste sind entblößt, und in der rechten Hand trägt sie ein Schwert.
Die Richterin am Frankfurter Sozialgericht trug eine hochgeschlossene Robe, mit der linken Hand drehte sie an einem merkwürdigen Lesegerät für Akten, das wie ein kleiner Kopierer aussah. Es war über ein Kabel mit ihrem linken Ohr verbunden. Die Akten wurden von einem Justizmitarbeiter nach ihrer Anweisung aufgelegt. Die Finger ihrer rechten Hand trommelten auf den Richtertisch. Ihr leerer Blick pendelte zwischen uns, dem GTU-Anwalt und mir, und dem Anwalt der Offenbacher Arbeitsverwaltung hin und her. Sie war blind.
Leider war sie auch blind gegenüber unserem Anliegen. Sie sah keinerlei Amtswillkür. Unsere benannten Zeugen wollte sie erst gar nicht anhören, die Sache sei klar, da wir ja weiterhin mit dem Amt zusammenarbeiten würden. Auf freiwilliger Basis. Als freier Bildungsträger sei es uns ja freigestellt, auf die Förderung der Maßnahmen durch das Amt zu verzichten. Schließlich stehe es den Kursteilnehmern frei, sich auf eigene Kosten eine Weiterbildung angedeihen zu lassen.
Mit keinem Wort war die auf beiden Augen blinde Richterin auf unsere Begründungen eingegangen: Dass man dienstanweisungswidrig eine Auftragsmaßnahme ausgeschrieben hatte, obwohl dem Amt ein bundesweit akzeptiertes Angebot von uns vorlag. Dass man uns monatelang keinen Bescheid erteilt hatte. Dass man die anfragenden Kursinteressenten mit Falschauskünften abzuhalten versuchte. Dass man unser Know-how an Wettbewerber weitergab. Dass man Wettbewerbern, die weder Ahnung noch Erfahrung in diesem hochkomplexen Fortbildungsmilieu hatten, hinterrücks einen höheren Preis als uns angeboten hatte. Dass man uns mit allen möglichen Tricks unter Druck setzte, uns gewissermaßen ununterbrochen erpresste.
Kein Wort dazu im Prozess – außer von unserem Anwalt.
Kein Wort dazu im Urteil.
Der Urheberin aller Beschwerden, Frau Söhnlein, war klar gewesen, dass keines ihrer Argumente gegen unser umwelttechnisches und ökologisches Modellprojekt weder beim Landesarbeitsamt noch beim Gericht Beifall finden würde. Daher hatte sie auf die altbewährte bürokratische Methode des Hinhaltens und der Sabotage zurückgegriffen, um unser Vorhaben zu vereiteln. Es war ihr zwar nicht gelungen, und wir waren noch am Leben.
Aber unsere Klage gegen ihre so störende Sabotage fiel hier bei Gericht völlig hinten runter – mit dem widersinnigen Argument, wir lebten ja noch und hätten keinen existentiellen Schaden, denn sonst würden wir nicht mehr existieren.
Gott sei Dank hatte ich zwei Jahre zuvor eine positive Erfahrung beim Darmstädter Landgericht gemacht, wo man den irrwitzigen Wunsch mancher Teilnehmer aus unserem ersten Modelllehrgang abgeschmettert hatte: Die klagenden Teilnehmer sollten, wenn es nach ihnen gegangen wäre, ohne Berücksichtigung ihrer individuellen Leistung eine sehr gute Bewertung zertifiziert bekommen. „Jeder eine Eins!“, hieß ihre griffige, aber für mich unbegreifliche Formel. Das hätte unser Zertifikat auf dem Arbeitsmarkt absolut wertlos gemacht. Das Gericht hatte es ebenso gesehen. Vernunft hatte gewaltet.
Aber diese Prozessführung hier vorm Sozialgericht gegen das hochheilige Offenbacher Amt war einfach unterirdisch.
Die ungewollte juristische Weiterbildung im Laufe dieses dreistündigen Verfahrens bei der blinden Richterin führte mich zu der wenig erbaulichen Erkenntnis, dass die Blindheit der Justiz gelegentlich im mehrfachen Wortsinn zutreffend sein kann. Gegenüber unserer bundesdeutschen Justiz war ich seitdem zwar nicht voreingenommen, aber doch in gewissem Sinn geimpft.
Genau das berichtete ich unserer Sekretariatschefin.
„Lassen Sie sich ruhig noch mal impfen. Diesmal Grippe-Impfung!“, rief mir Frau Wenzel auf dem Flur zu. „Ich habe es seit Freitag hinter mir und das Wochenende gut überstanden.“
„Ich muss in den Unterricht. Nachher können wir sprechen“, antwortete ich und beeilte mich, um vor den Kursteilnehmern im Raum zu sein. Aber als ich den Unterrichtsraum betrat, saß bereits ein Teilnehmer breit grinsend dort. Es war mein alter Jugendfreund Veit in seinem Rollstuhl, und er feixte: „Na, du hast doch letztlich gemeint, du seist immer eine viertel Stunde vor Lehrbeginn zur Stelle. Verschlafen?“
Er hatte nicht unrecht, die Nacht war nicht gerade ruhig und erholsam gewesen. Meine Tochter Karola hatte Durchschlafschwierigkeiten gehabt und war kurz nach Mitternacht und dann noch einmal frühmorgens gegen fünf Uhr zu meiner Frau und mir ins Bett gekrochen gekommen.
Ich war etwas später dran als sonst. Normalerweise schaute ich in alle Unterrichtsräume, kontrollierte die Sauberkeit, schaute nach den Tafeln und Flipcharts, ob jeweils neues Papier aufgelegt war oder ob Stifte und Kreide noch ausreichend vorhanden waren. Ich kontrollierte die Beamer und Overheadprojektoren, die Leinwände und ob die Heizungen funktionierten und das Thermostat angemessen eingestellt waren.
„Kontrollieren Sie nicht zu viel“, hatte mein Hausarzt gemeint, als ich ihm über meine Magenbeschwerden unterrichtete. „Nehmen Sie Talcid. Das bindet die überschüssige Magensäure. Und denken Sie daran: Mehr an Ihre Mitarbeiter delegieren! Vertrauen Sie Ihren Leuten, das wird alles gut gehen, auch wenn Sie nicht überall kontrollieren!“
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, hieß meine Devise bisher. Nun also sollte ich den Spruch umkehren und mehr Betonung auf das Vertrauen legen. Dem Sekretariat mit Frau Wenzel vertraute ich blind. Nur nicht im Fall der Grippeimpfung. Da ließ ich mich von ihr nicht überzeugen.
Vor einigen Jahren hatte ich mich das erste Mal in meinem Leben gegen Influenza impfen lassen. Es war schiefgegangen.
„Sind Sie gesund?“, hatte mich mein Hausarzt gefragt.
„Topfit!“, hatte ich geantwortet. „Keinerlei Krankheitsanzeichen seit achtzehn Monaten. Die letzte Erkältung war im Februar Vierundachtzig.“
Aber ich hatte mich dann nur noch schlappe drei Stunden lang wacker gehalten. Danach begann der große, der ganz große Zirkus. Gliederschmerzen, wie ich sie noch nie im Leben hatte. Hohes Fieber – 39,8 Grad innerhalb kürzester Zeit. Beißende Halsschmerzen, gefolgt von einem lästigen und bald schon schmerzhaften trockenen Dauerhusten. Ein Schnupfen vom Besten hatte das Impfprogramm abgerundet. Und das Nachglühen der Influenza dauerte fast ein Vierteljahr.
Veit, der jetzt samt seinem Rollstuhl in einem unserer Umweltinformatik-Kurse gelandet war und mich eben begrüßt hatte, war seinem gut durchdachten Selbstmord vor einem Jahr nur knapp entronnen. Dafür musste er ein großes Opfer bringen und auf den Bahngleisen seine beiden Beine zurücklassen. Erst hatte er das Scheitern seines selbstgewählten Todes bedauert und neue Pläne ausgeheckt, um sich umzubringen. Doch seit er unsere Weiterbildung besuchte, stärkte sich sein Überlebenswille und langsam zog wieder Freude in sein bisher so deprimierendes Leben ein.
Frau СКАЧАТЬ