Название: Rasante Zeiten - 1985 etc.
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Roman
isbn: 9783750237100
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Gunnar sah es natürlich anders, denn sein Philip konnte – „freiwillig“, wie er betonte – noch etliche Schubladenregale aufstocken, was aus seiner Sicht genügend kreative Luft nach oben bot. Ich schwieg dazu und musste lächeln. Wahrscheinlich bewunderte ich insgeheim das Ordnungssystem. Aber gleichzeitig dachte ich: So wehrt sich die tief verinnerlichte alte Ordnungssehnsucht unserer Eltern und Großeltern gegen die erst eineinhalb Jahrzehnte frische Sehnsucht der 68er-Eltern nach mehr flexibler und kreativer Freiheit von genau dieser Ordnung.
Als Annes Mann Tobias, unser promovierter Diabetes-Experte, über verträgliche Menge und Art der Süßigkeiten für unsere Kids zu schwadronieren begann, war es Zeit, die Hüllen fallen zu lassen und zu duschen. Die Sauna war auf 80 Grad aufgeheizt, und so setzten wir unsere Unterhaltung schwitzend fort. Inzwischen waren auch Irmel und Arnd aus der Seitenstraße sowie ihr Untermieter, der 25-jährige Jungschauspieler Christian, eingetrudelt. Auch Doris, die im Nebenhaus wohnte und in Frankfurts Innenstadt einen gutsituierten Optik- und Hörgeräteladen betrieb, kam später dazu. Noch genoss sie ihr Single-Dasein, lag aber bei jeder Festivität auf der Lauer …
„Auf meinem Grabstein wird mal stehen »Sie war stets suchend und bemüht«. Ich werde euch für diese Inschrift jedenfalls von himmlischen Gefilden herab danken!“, sagte sie dann scherzend, wenn jemand versuchte, sie auf einen Mann aufmerksam zu machen.
Gib mir mal ‘ne Bottle Bier
Nach dem ersten Saunagang saßen wir um unseren Esstisch herum und tranken erst einmal aus Emmas Samowar, den sie auf Frankfurts Trödelmarkt am Main erstanden hatte. Tee mit Glühweingeschmack, der aber kein Glühwein war. Nun ja, dem Trend der Zeit entsprechend: mehr Schein als Sein, aber gewiss nicht ungesund, irgendwie, oder so oder vielleicht. Aromatisierte Teesorten waren »in«.
Dann kamen noch Gitti, wie immer stark parfümiert, und Bernd, entsprechend passend zu seiner Herzdame duftend, hinzu. Sie wohnten im selben Dreifamilienhaus wie Moni und Gunnar. Unsere Saunarunde war nun komplett.
Bis auf Doris, die zehn Jahre älter und Christian, der zehn Jahre jünger war, waren wir alle im etwa gleichen Alter zwischen 30 und 35 Jahre alt. Meistens machten wir Jungs gemeinsam einen Saunagang, und danach gingen die Mädels in die verschwitzte Bude. Wir unterhielten uns entweder über unsere Jobs oder über Politik und Wirtschaft. Die Frauen erzählten sich Neuigkeiten aus Kindergärten, Schulen und der Mode. Klassische Rollenaufteilung, klassisches Rollengeschwätz. Aber immer unterhaltsam. Das Revolutionsfieber lag Jahrzehnte hinter uns. Und doch glühte da irgendwo noch irgendetwas sanft in der linken Herzkammer und hielt die Aortenklappe in Bewegung.
Christian, unser Jungschauspieler auf diversen Tingel-Tangel-Bühnen, fand, die Politik sei ein einziges Schauspiel, und CDU und CSU hätten zugestandener Weise die weltallerbesten Darsteller. Gerade vor ein paar Tagen nämlich war CDU-Charmeur Rainer Barzel vom Amt des Bundestagspräsidenten mit Sauerbiermiene zurückgetreten, nachdem der Verdacht aufgekommen war, er stehe im schmierigen Zusammenhang mit der Flick-Parteispendenaffäre. Natürlich spielte er einen auf völlig unbeteiligt und wusste von nichts, auch wenn die sich Sachlage selbst für Otto Normalverbraucher sehr eindeutig darstellte.
„Barzels Sauerbiermiene ist wahrscheinlich auch nur gespielt“, meinte ich und wurde mir sofort bewusst, dass ich hätte schweigen sollen, als Gunnar mit einer ebensolch bierernsten Miene das Wort ergriff.
Schließlich war er selbsternannter Bierfachmann und somit auch Bierhistoriker. „Vorneweg: »Das« Sauerbier gibt es nicht“, sprang er sofort auf Barzels Sauerbiermiene an. „Mit dem Begriff Sauerbier werden eine ganze Vielzahl unterschiedlichster Biere zusammengefasst.“
Höflich und unschuldig, wie er war, fragte Bernd überflüssiger Weise nach: „Welche Vielzahl meinst du? Welche Brauerei-Stile sind das, wo kommen sie her – und vor allem: Warum schmecken manche Biere sauer?“
Jetzt mischte auch noch Doris mit, obwohl sie kaum Bier, stattdessen aber viel Rotwein trank: „Genau! Früher war Bier irgendwie mehr sauer.“ Eine absolute Steilvorlage für Bier-Gunnar, der als Vollkostvegetarier zugleich überzeugter Biertrinker war, wovon sein Bierbäuchlein zeugte.
„Bier ist gesund und besteht zu 100 Prozent aus vegetarischen Bestandteilen“, warf ich opportunistisch dazwischen, um nicht als Spielverderber blöd da zu stehen.
Gunnar sah mich ein klein wenig misstrauisch an, wie ich fand; schließlich wusste er, dass ich kein passionierter Biertrinker war. Dann sah er zu Doris, um ihr in seiner unnachahmlich souveränen Art zu antworten: „Man muss davon ausgehen, dass vor der Einführung des bis heute gängigen Konservierungsverfahrens flüssiger Lebensmittel durch Louis Pasteur – kurz: vor der Pasteurisierung – alle Biere mehr oder weniger säuerlich schmeckten.“
„Hä? Pasteurisiertes Bier?“, sagte Doris. „Klingt auch nicht gerade nach Natur pur!“
Und plötzlich wurde mir bewusst, dass all die spannenden, weltbewegenden WG-Diskussionen der früheren Jahre unwiederbringlich vorüber waren. Sie waren den gesättigten Unterhaltungen bürgerlicher Belanglosigkeit gewichen.
„Infektionen mit Milchsäure- oder anderen Bakterien oder bestimmten Hefen, wie der Brettanomyces, die für einen ganz eigenen Sauer-Touch im Bier sorgen, waren früher kaum zu verhindern“, fuhr Gunnar seinen Vortrag fort. „Je nach Brauerei, Temperatur, Jahreszeit, also je nach Spiel des Schicksals, tat das dem Geschmack des Bieres mehr oder weniger Abbruch. Die Redewendung, etwas verkaufe sich »wie sauer Bier«, hat jedenfalls belegbare, historische Wurzeln.“
»Howgh«. Der Häuptling der Bildungsbürger hatte gesprochen. Emma, Gitti, Irmel und Arndt zollten so etwas wie höflich-verhaltenen Beifall. Und auch ich nickte etwas widerwillig, was man jedoch auch als sachte zustimmend werten konnte. Vom Thema selbst hatte ich keine Ahnung und fand es auch nicht besonders aufregend. Zehn Jahre später sah ich das anders, was ich jetzt von mir selbst nicht wissen konnte. Im Augenblick jedenfalls langweilte mich die Thematik.
Mich beschäftigte im Moment mehr, weshalb die Amis mit großer Mehrheit doof genug waren, den doofen rechtskonservativen Republikaner und hauptberuflichen Wild-West-Schauspieler Ronald Reagan erneut zu ihrem Wildwestpräsidenten zu wählen. Noch einmal vier lange Jahre diesen durchtriebenen Luftikus, diesen Geldverschleuderer, diesen weltweit größten Staatsschuldenmacher, diesen ungenierten Rüstungsfanatiker. Ein Mann, der reiner Statist für die Superreichen war und der seinen zig Millionen armen Mitbürgern noch nicht einmal ein funktionierendes und bezahlbares Gesundheitssystem gönnte.
Meine Gedanken in Ehren, aber Gunnar war im theoretischen Bier-Rausch und nicht zu bremsen. „Als Brauer ab Ende des 19.Jahrhunderts in der Lage waren, die unbeabsichtigte Säuerung zu verhindern, taten sie das in Deutschland auch. Saure Biere waren hierzulande schnell auf dem Rückzug, selbst das letzte seiner Art, die Berliner Weiße, war bis Mitte des 20.Jahrhunderts fast ausgerottet. In anderen Teilen der Welt aber hielten sich Sauerbiere – allen voran in Belgien. In Belgien haben saure Biere Tradition.“
Gunnar sah seine Moni auffordernd an. Und sein Weibchen war bereit zu springen: „Soll ich ein paar Flaschen holen?“
Für Emma und mich war es spannend, noch einmal so ein quicklebendiges Patriarchat in der Epoche der allgemeinen Emanzipation zu erleben. Eine Art Zeitreise in die Ära unserer Großeltern und Eltern. Ich hätte darauf wetten können, dass jede andere Frau aus unserer Saunarunde, statt sich so weiblich beflissen auf den Sprung zu machen, eher ihren Mann zum Bier holen heimgeschickt hätte.
Gunnar aber wies ihr mit einer knappen Kopfbewegung den Weg und fuhr dozierend fort: „Die besten, die edelsten Biere unseres bierkulturell СКАЧАТЬ