Название: Rasante Zeiten - 1985 etc.
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Roman
isbn: 9783750237100
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„Schon mal was vom Wahlgeheimnis gehört?“, konterte Bernd. „Aber im Ernst: Ich weiß nicht, was meine Frau wählt, ich zumindest mache es von den jeweiligen Umständen abhängig. Es kann schon mal sein, dass ich auf kommunaler Ebene CDU oder SPD wähle, je nach Kandidaten, und auf Bundesebene eben GRÜNE, also vielleicht, wer weiß, kommt ganz drauf an!“
Ähnlich äußerte sich Gitti, die demnächst im Paul-Ehrlich-Institut, dem Bundesamt für Sera und Impfstoffe, anfangen würde. Sie war inzwischen unsere Expertin in Sachen AIDS, dem hochaktuellen Gesundheits- und Sex- beziehungsweise Anti-Sex-Thema. Sie informierte uns bereits jetzt über ihr Lieblings- und zukünftiges Arbeitsgebiet, über die neuesten Erkenntnisse aus der Impfindustrie und aus dem staatlichen Zulassungs- und Kontrollapparat.
„Meine Parteipräferenz? Was ich wähle? Was weiß ich!“, sagte sie. „Es kommt ganz auf die aktuellen Angebote der Parteien an. Und was sie gegen AIDS zu tun gedenken.“
Von AIDS, der unheilbaren, unweigerlich tödlich verlaufenden Krankheit, über die Ansteckungs- und Übertragungsgefahren bis hin zur Frage, ob wir eigentlich unsere Kinder schon hatten taufen lassen, bedurfte es keiner großen Gedankensprünge.
„Nein, Karola und Luca sind noch nicht getauft“, sagte Emma. „Wir hätten es euch schon gesagt. Aber wir haben es vor. Wahrscheinlich um die Osterzeit herum. Wenn das Wetter mitspielt, machen wir ein Gartenfest.“
„Seid ihr noch in der Kirche?“, fragte Doris.
„Nein“, antworteten Emma und ich wie aus einem Mund.
Ich war bereits zwei Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag zum Amtsgericht gegangen, um mich erleichtert von der obersten Heuchler-Instanz zu verabschieden. Der Eintritt in die Gemeinde erfolgte stets automatisch, doch der Austritt machte einen amtsgerichtlichen Staatsakt – manchmal samt Begründung – nötig. Die Austrittsurkunde hing ich mir damals gerahmt in mein WG-Zimmer. 1968 hatte das ungenügende Engagement der Kirchenhäuptlinge gegen den Vietnamkrieg meine anti-kirchliche Haltung beflügelt. Besonders galt das für dieses eine Bild mit dem Militärpfarrer, der jenen hässlichen Langstreckenbomber mit Weihwasser besprühte. Gleichwohl lernte ich später viele ehrliche Christen in der Friedensbewegung schätzen.
„Man will ja seine Kinder nicht zu Sonderlingen machen“, sagte Emma, und ich stimmte ihr zu.
„Wenn alle zum Religionsunterricht gehen, nur deine Tochter hat eine einsame Freistunde, dann muss sich das Kind ja ausgeschlossen fühlen“, sagte ich. „Die Kinder können ja später entscheiden, ob sie der Kirche angehören wollen oder nicht.“
„Ich wurde stockkatholisch erzogen und kenne die Doppelmoral dieser Brüder und Schwestern in- und auswendig“, sagte Gitti. „Aber ich bin immer noch in diesem Verein, weil ich denke, dass man seinen Kindern später keinen Gefallen tut, wenn bei der Kommunion alle Eltern gläubig neben ihren Kindern auf der Kirchenbank sitzen, aber deine Kids wissen, dass du zu der Sache nicht wirklich stehst.“
„Was willst du damit sagen?“ Anne sah Gitti skeptisch, fast misstrauisch, an.
„Ich will damit sagen, dass ich glaube, dass man die Kirche auch verändern kann. Dass man dabei bleiben sollte, wenn man sie verändern will. Dass es genug Potential in der Kirche gibt, um der Aufrichtigkeit und der Umsetzung christlicher Werte gerecht zu werden.“
Anne schüttelte unmerkbar den Kopf und murmelte vor sich hin: „Na, dann mal viel Erfolg mit all den alten schmierigen Männern.“
„Ja, es sind schwierige Männer. Aber eines Tages werden …“ Gittis Satz brach unvollendet ab und niemand machte sie auf ihren Hörfehler aufmerksam.
Denn jetzt kam Moni mit sechs Botteln belgischem Bier zurück. Doch bevor wir die Flaschen köpften, starteten wir in die zweite Saunarunde, und erst danach aßen wir die Salate und Hähnchenschenkel und ließen uns das belgische Bier schmecken, wobei Doris dieses Mal kein Igitt, sondern einen wirklich undefinierbaren und doch irgendwie zufrieden-glucksenden Sufflaut hervorstieß.
Traumreise nach London
Emma schlief schon. Ich war angenehm erschöpft, aber noch nicht müde. Die beiden Saunagänge hatten gut getan – auch die Gespräche über Gott und die Welt hatten meine Gedanken vom Besuch der Staatsschutzbeamten und dem mysteriösen Hintergrund abgelenkt. Schlafen konnte ich noch nicht. Also knipste ich meine Nachttischlampe an und legte ein buntes Tuch darüber, damit Emma und Luca nicht wach wurden. Karola schlief schon in ihrem eigenen Kinderzimmer.
Ich griff zu meinem Schmöker auf dem Nachttisch, war im Nu in Orwells »1984« versunken und erlebte mit Winston Smith die Welt der allgegenwärtigen Überwachung. Keine Ahnung, wie lange ich gelesen hatte; ich weiß nur, dass mich die Sache mit dem »Neusprech« sehr beschäftigte. Wenn ich nur mehr darüber erfahren könnte … Dann musste ich gerade noch das Licht ausgeknipst haben und mir mussten die Augen zugefallen sein …
Es ist mir völlig schleierhaft, wie ich bei all diesen Kontrollen nach London gelangt war. Es war jedenfalls ein klarer, kalter Tag im November, und die Glocken am Big Ben schlugen gerade dreizehn, als ich den Victory-Block erreichte, in dem Winston Smith wohnte. Ich ging rasch durch die Glastür, nachdem mir ein unbestimmtes Summen anzeigte, dass Mr. Smith auf mein Klingeln hin den Öffner betätigt hatte.
Irgendwie roch es seltsam im Flur. Aber noch seltsamer war das Riesenplakat, von dem mir ein übergroßes weibliches Gesicht streng entgegensah – so, als wollte mich die Eigentümerin dieser Wohnanlage, oder wer immer es war, vor Ungehorsam warnen. Das Gesicht war so aufgenommen, dass mich ihre herrischen Augen überallhin verfolgten. Ich schaute nach, ob die darunter aushängenden Zettel einen Hinweis auf den strengen Blick gaben. Tatsächlich hing dort die Hausordnung, die ich jedoch nicht zu lesen beabsichtigte. Darüber konnte mir Winston gewiss Auskunft erteilen. Unter dem Plakat stand in fetten Lettern: »Sie sieht dich! Sie liebt dich!«
Winstons Wohnung lag sieben Stockwerke hoch, der Aufzug war außer Betrieb, und ich kam schnaufend an. Der Mann, der mir die Tür öffnete, sah verhärmt und grau aus. Seine Augen waren faltenumwölkt, hatten jedoch noch einen seichten Glanz und strahlten einen Rest Hoffnung aus, als sie mich wahrnahmen. Als hätte er mich lange schon erwartet, bat er mit einer einladenden Geste hinein, jedoch ohne ein Wort zu verlieren. Stattdessen legte er den Zeigefinger auf den Mund und bedeutete mir, ihm schweigend zu folgen.
Smith war eine magere, gebrechliche Gestalt, die fast etwas Geisterhaftes an sich hatte. Betont wurde dies durch die graue Tory-Parteiuniform, die er trug, einer Art Trainingsanzug. Über seiner linken Brusttasche, dort, wo das Herz sitzt, war ein roter Punkt aufgenäht. Es bedeutete, dass Winston Smith eine Vertrauensperson innerhalb des Parteiapparates und somit auch im Ministerium war.
Aus einem in die Wand eingelassenen modernen Volksempfänger, vermutlich aus Leichtmetall, der im Flur seitlich der Eingangstür angebracht war, klang eine blecherne Stimme und verlas Zahlen zur aktuellen Rüstungsproduktion. Winston drehte an der rechten Seitenwand an einem Metallrädchen. Er drehte es bis zum Anschlag, so dass die Stimme zwar leiser gestellt, aber nicht abgestellt werden konnte. Kurz hinter der Wohnungstür nahm Winston ein Tuch von der Linse des Volksempfängers, das bisher verhindert hatte, dass ich in ihr Blickfeld geriet. Es war ein Gerät, das sich »Televisor« nannte und das der Durchsage von Nachrichten für die Ministeriumsmitarbeiter, aber auch dem Empfang von Geräuschen und Gesprächen aus den Wohnungen und Büros derselben diente. Das Gleiche erfolgte auf optischem Weg – СКАЧАТЬ