Название: Rasante Zeiten - 1985 etc.
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Roman
isbn: 9783750237100
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Am nächsten Vormittag brachte ich das Krankenkärtchen vorbei, und da der Doktor gerade Zeit hatte und keine Patienten im Wartezimmer saßen, unterhielten wir uns über die modernen Kinderkrankheiten.
„Ich vermute, dass viele der neueren Krankheiten mit der zunehmenden Umweltbelastung zusammenhängen“, sagte ich.
Er schüttelte entschieden den Kopf. „Das kann man so nicht sagen. Es gab schon immer Belastungen aus der Umwelt, weshalb sollte dies heute anders als früher sein?“
Schon wieder einer, der sich schlafend stellte. Wieder erinnerte ich mich schlagartig an das afrikanische Sprichwort »Es ist schwer jemanden zu wecken, der sich schlafend stellt« und versuchte erst gar nicht, mit Argumenten dagegen zu halten. Dafür interessierte mich sein Verhältnis zum Kernkraftwerk.
„Müssen Sie auch innerhalb des Werkes als Arzt tätig werden?“
„Bei akuten Notfällen natürlich. Da fällt jemand eine Leiter runter und bricht sich was, oder in der Küche säbelt sich jemand einen Finger ab, kurzum: Alle Unfälle, wie sie in anderen Betrieben oder im Haushalt vorkommen, muss ich als Werksarzt behandeln.“
„Und ich nehme an, natürlich auch, wenn es einen Zwischenfall mit Strahlung gibt?“
„Strahlungsschäden? Das gibt es nicht. Wenn da etwas austreten würde, nein, nein, das ist unmöglich, und im Übrigen finden drei Mal am Tag in allen Bereichen Prüfmessungen statt.“
„Und wenn mal etwas Größeres passieren sollte?“
Der Doktor brach in heftiges Lachen aus. „Sie meinen so etwas wie einen Super-GAU?“
Ich nickte betreten, weil es einfach nicht außerhalb meiner Vorstellungskraft lag.
„Also bei einem Super-GAU wäre ich natürlich völlig machtlos und selbst handlungsunfähig. Aber bei unserem Druckwasserreaktor handelt es sich bereits um die dritte Generation, eine sogenannte Vor-Konvoi-Anlage. Eine noch sicherere Kernkrafttechnik ist gar nicht möglich. Man hat mich an einer technischen Verständnis-Schulung teilnehmen lassen, glauben Sie mir: Unsere Technik ist so ausgereift wie nirgendwo sonst!“
„Aber beim Three-Mile-Island-Reaktor in Harrisburg rechnete auch niemand mit einer Kernschmelze, und man hielt ihn für hundertprozentig sicher. Es sei lediglich mit einem kleinen sogenannten Restrisiko zu rechnen, hieß es, bevor das katastrophale Desaster passierte.“
„TMI, das war ein Druckwasserreaktor der vorangegangenen Generation. Heutzutage kann nichts schiefgehen. Man hat ja schließlich daraus gelernt“, sagte der Arzt im Brustton der Überzeugung.
Was sollte ich noch sagen oder fragen? Außer vielleicht dies: „Wie hoch ist Ihr AKW-Salär? Und wie hoch ist die Verschwiegenheitsstufe mit der Sie über strahlungsbedingte Krankheiten gegenüber der Öffentlichkeit schweigen sollen?“ Aber das fragte ich nicht. Er hatte in der Nacht Luca gerettet.
Und jetzt überreichte ich das Krankenkärtchen und nahm dafür ein Rezept entgegen. Er gab mir noch einen Hinweis mit. Wir sollten diese Kortison-Zäpfchen niemals auf unseren Reisen vergessen und zu Hause immer griffbereit liegen haben. Es war ein guter Tipp, an den wir noch so manches Mal zwangsweise erinnert wurden.
„Erinnerst du dich an diese ermüdenden Familienfeiern von früher?“, fragte ich Emma, als wir im Auto zurück nach Frankfurt fuhren.
„Hast du Armins Geburtstagsfeier ermüdend gefunden?“
„Nein, das meine ich nicht. Ich denke an alte Zeiten, zum Beispiel an den Geburtstag der Patentante Susanne, die ich Gott sei Dank nur einmal im Jahr sah, oder an Onkel Friedrichs achtzigsten Geburtstag oder an die Goldene Hochzeit der Großtante Margarete.“
„Ich kenne die ja alle nicht. Was ist denn damit?“
„Nun, Familie ist kein Ponyhof.“
„Wie man’s nimmt“, sagte Emma, die auf dem Beifahrersitz saß, während hinten die Kinder schliefen.
„Noch heute steuert meine Schnappatmung dramatische Höhen an, wenn ich mich an Patentante Susannes feuchte Küsse und ihren schrillen Ausruf erinnere: »Oh, du bist aber gewachsen. Im letzten Jahr warst du noch so klein!« Dabei zeigte sie mit Daumen und Zeigefinger ein Maß an, das mich ins Reich der Zwerge katapultierte. Und dann bekam ich den unvermeidlichen, ekelhaft feuchten Schmatzer.“
Emma musste lachen. „Ja, solche Erinnerungen habe ich auch. Zum Beispiel von meiner etwas dicklichen Großtante: »Kind, du musst mehr essen, du bist zu dünn!« Es folgte eine wilde Streicheleinheit über mein Haar, dass ich gerade in mühsamer und zeitraubender Arbeit vor dem Badespiegel hergerichtet hatte.“
„Bei mir kam dann aber die Katastrophe mit Tante Margarete daher“, sagte ich. „Wenn sie das Spitzentaschentuch hervorholte, um mir mit ihrer Spucke den Salonschnitt zu glätten, oder gar das Gesicht spuckefeucht zu säubern. Puuhh!“
Emma sagte: „Den Vogel schoss Onkel Erich ab, der – nachdem man mich als dünn bezeichnet hatte – laut in die Feierlichkeiten hinein posaunte: »Papperlapapp, eine schöne junge Dame ist sie geworden, mit richtig was drin in der Bluse.« Ja, dachte ich dann, Peinlichkeit, du hast ein Zuhause!“
Die Fahrzeit vertrieben Emma und ich uns immer mit allerlei Geschichten aus unserem Freundeskreis oder über das, was ich beruflich gerade erlebt oder mit Kollegen besprochen hatte. Deshalb erzählte ich Emma, was mir Jan, mein ehemaliger Kollege vom Wissenschaftszentrum Berlin und inzwischen mein bester Freund, einmal aus der Zeit seiner Pubertät berichtet hatte.
„Weißt du, was mir damals auf der Konfirmationsfeier die Laune verdorben hat?“, fing mir Jan damals amüsiert an. „Wir waren gerade bei der Vorspeise des Fest-Essens. Da platzte doch der Pastor herein und hielt eine nicht enden wollende Festrede. Fazit dieser langen Rede war eine eiskalte Suppe und ein lauwarmer erster Gang. Meine Mutter aber flüsterte mir während des seligen Geschwafels entsetzt ins Ohr: »Sein Anzug ist ungebügelt!« Tja, Stefan, so war das damals.“
Und wie das so ist, hatte Jan auch noch von seiner stinkreichen Tante Hermine erzählt, eine Tante dritten Grades. Sie war mit einem unverdienten, weil geerbten, Vermögen gesegnet, und jeder erwartete wohl, nach ihrem Ableben ein nettes Sümmchen abzusahnen. Sie tyrannisierte mit Blicken und Taten und drohte in jedem zweiten Satz mit Enterbung. Auch mit ihren dritten Zähnen konnte sie mit Worten noch kräftig zubeißen.
„Sie war eine alte, hässliche, grantige Hexe, sagten jedenfalls wir Kinder. Aber die Erwachsenen tätschelten ihr die Wange. Tätscheln bringt Bares, war wohl ihr Hintergedanke.“
„Ob wir später auch mal so werden?“, stellte ich die mehr oder minder rhetorische Frage.
Emma sah mich von der Seite fragend an. „Werden wie die Tante oder wie die Absahner?“
„Beides.“
„Ich glaube, das können wir erst beantworten, wenn die Jahreszahlen unseres Alters auf die dramatischen Höhen dieser diversen Tanten und Onkel zusteuern. Außerdem haben wir bisher nichts zu vererben.“
Erleichtert dachte ich an unser wahrscheinliches Verfallsdatum, das noch weit in der Zukunft lag, wenngleich es offensichtlich unaufhaltsam näher rückte. Schließlich waren die letzten Jahre wie im Flug vergangen. Aber hatten Emma und ich, hatte unsere junge Familie ihre Zukunft nicht erst СКАЧАТЬ