Название: Rasante Zeiten - 1985 etc.
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Roman
isbn: 9783750237100
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Emma war mit dem Thema nicht ganz so vertraut wie ich, hatte aber während ihrer Schwangerschaft das Buch »Wie wir wurden. Was wir sind« von Bernt Engelmann mit größtem Interesse gelesen. „Die DDR ist eben nicht »sozialistisch« geworden, weil die Menschen dort anders waren, sondern weil der Faschismus militärisch besiegt wurde“, meinte sie. „Die Menschen in der jungen DDR waren so nationalistisch, so faschistisch geprägt wie die im Westen. Sie sind also nicht über Nacht zu Sozialisten geworden. Sie haben es hingenommen.“
„Da ist etwas dran“, antwortete Tamara. „Es war ein langer, langsamer Überzeugungsprozess.“
„Der Sozialismus musste also von »oben« dekretiert werden. Ebenso konnte er nur von oben »verteidigt« werden – gegen eine Mehrheit, die damals zu keinem Zeitpunkt für einen Sozialismus, welcher Art auch immer, gekämpft hatte.“ Ich ahnte, dass es Tamara schwer fiel, hierzu etwas zu sagen. Zu sehr war sie in ihrer postfaschistischen Sozialisation befangen. Sie hatte ja ebenso wie Emma und ich keinerlei Gemeinsamkeit mehr mit der Generation der alten braunen Säcke.
„Wir haben in der DDR halt einen »realen Sozialismus«, was so viel heißen soll: Man kann in der Gegenwart nur das an Zielen erreichen, was realistischer Weise materiell und vom Bewusstsein der Massen her machbar ist“, sagte Tamara. „Immerhin gibt es in unserem System genug Arbeit für jeden. Obdachlosigkeit, Drogenkonsum und Kriminalität sind auf unterstem Level. Unser Gesundheitssystem ist hervorragend und steht jedem offen; unser Wissenschafts- und Bildungssystem, unser Breitensport und die Friedenspolitik unserer Regierung stehen im Systemvergleich weit vorn.“
„In der entscheidenden Mikrochip-Forschung hinkt die DDR nach“, bemerkte ich etwas beiläufig, um dann auf Tamaras Arbeit zu sprechen zu kommen und wiederholte meine Frage: „Nun sag‘ doch mal – bist du jetzt hauptberufliche Funktionärin?“
„Nein, ich gebe doch meinen sicheren Beruf in der Maschinenbaubranche nicht für einen politischen Job auf. Aber für unsere Gewerkschaftssektion bin ich schon sehr aktiv. Bin mal gespannt, was ich hier über die DGB-Aktivitäten erfahre. Ein Erfahrungsaustausch ist immer gut, um Brücken zu schlagen.“
„Genau“, sagte Emma, „da wären wir wieder beim Karat-Song: »Über sieben Brücken musst du gehn, sieben dunkle Jahre überstehn, siebenmal wirst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein«. Hoffen wir mal, dass unsere westdeutschen Gewerkschaften ihre dunklen resignativen Zeiten hinter sich haben und eurer Delegation einen etwas helleren Schein mit auf den Weg geben können.“
„Oder umgekehrt“, sagte Tamara lachend.
Emma ging mit ihr hoch in die Mansarde, um ihr die Schlafstube und das klitzekleine Bad zu zeigen. Oben flüsterte sie ihr zu: „Hier drunter wohnt unsere neugierige Tante Ria. Sie ist schon achtundsiebzig, sieht und riecht und hört aber noch alles. Manchmal hört sie sogar die Flöhe husten. Wenn du ihr morgen Früh zufällig begegnen solltest und sie dich verwundert fragt, wer du bist, dann sag einfach, dass du unsere gute Freundin aus Berlin bist. Mehr muss sie nicht wissen.“
Tammi lächelte wissend. „So Leute gibt’s in jeder Gesellschaft“, flüsterte sie zurück.
Als ich neben Emma einschlief, gingen mir der sichere Arbeitsplatz von Tammi und mein unsicherer Uni-Job durch den Kopf. Meine leisen Existenzängste waren in der Stille der Nacht ernsthaft spürbar. Es gab keinerlei Chance, meinen Zeitvertrag an der Uni zu verlängern.
Nichts, absolut gar nichts stand perspektivisch in Aussicht. Ich hatte auch keine Idee – außer wieder ins Journalistengeschäft einzusteigen, diesmal vielleicht in den »großen Journalismus« der Massenpresse. Wollte ich aber wirklich dort landen? In einer Branche voller Ungewissheiten, voller geheuchelter Liebedienerei, einem Handwerk mit beschränkter Haftung, dafür mit beschränkter Berichtsfreiheit und mit äußerst beschränktem Einkommen? Freier Journalist in der freien Wildbahn der Konzernpresse?
Ich schlief ein, aber schon nach drei Stunden wurde ich wieder wach, und die bedrückende Frage rotierte in meinem Schädel: Wie konnte es bei mir nur weitergehen? Sollte ich es demnächst mit Emma besprechen?
Ich drehte mich von einer Seite auf die andere, bis ich endlich wieder eingeschlafen war. Am Morgen war ich mir ganz sicher: Ich wollte es nicht mit Emma besprechen, wollte meine Sorgen nicht auf ihr abladen, obwohl es ja hieß, geteiltes Leid sei halbes Leid. Aber noch war das Leid ja nicht so groß, noch lagen achtzehn einkommenssichere Monate vor mir. Ich musste kreativ sein und musste bald schon handeln. Könnte ich nur in die Glaskugel gucken!
Weihnachten holten wir die Christkugeln raus. Wir schmückten die Wohnung festlich und stellten die von Opa Otto ausgesägten und bemalten zwanzig bis dreißig Zentimeter hohen Holzfiguren auf die Fensterbänke – Märchenfiguren wie die Sieben Zwerge und Schneewittchen, Rotkäppchen und der Wolf, dazu drei Tannenbäume. Zwei typische Weihnachtsmänner mit Rauschebart und Rute und den Geschenksäcken auf dem Buckel durften nicht fehlen. Diese von Otto bunt bemalten Holzfiguren hatten mich schon in meiner Kindheit und Jugend zum Weihnachtsfest erfreut.
Es war das erste Weihnachten zu Viert – im weiteren Verlauf natürlich mit Oma und Opa, mit meinem Bruder Günter samt seiner Kleinfamilie, die am zweiten Feiertag zu Besuch kamen. Meine Schwester Ursula und ihre Familie blieben aus fadenscheinigen Gründen fern. Sie kamen irgendwann nach Weihnachten, als Emma und ich nicht zu Hause waren. Schwager Claus war immer noch ein Stänkerer, aber immerhin hatte er nun seine Bestätigung als Ortsbeirat in der CDU gefunden. So verblasste seine NPD-Vergangenheit immer mehr, und er wurde trotz seiner persönlichen Macken offensichtlich immer besser in das integriert, was sich normale Gesellschaft nannte.
Zum Jahreswechsel fanden die USA allerlei Vorwände, um aus der UNESCO, der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur auszutreten. Schon ein Jahr zuvor hatten sie ihre Zahlungen eingestellt, weil ihnen einfach die humanitäre Ausrichtung der UNESCO-Politik nicht in den Kram passte. Dass diese erpresserische machtpolitische Einstellung zur Gewohnheit werden würde, dachte man damals noch nicht.
Im Radio lief ein Rückblick, und die Toten des öffentlichen Lebens wurden aufgezählt. Der britische Blues-Musiker Alexis Korner war schon Anfang des Jahres gestorben. Er war sechsundfünfzig Jahre alt geworden. In seiner Band »Blues Incorporated« hatten britische musikalische Stars wie Mick Jagger, Ginger Baker, Dick Heckstall-Smith, Charlie Watts, Cyril Davis, Jack Bruce, Brian Jones und Duffy Power gespielt.
Ich erinnerte mich an den »Summer of Love«, an unser deutsches Woodstock auf Fehmarn im Jahr 1970. Da hatte uns Alexis Korner als Moderator in Deutsch und Englisch durch das verregnete Konzert-Programm geführt. Wie sich herausstellte, sollte Alexis während des Festivals weit mehr als nur ein Ansager sein. Immer wieder musste er, um lange Pausen zu überbrücken, einige Lieder auf seiner Gitarre zum Besten geben, musste die Zuschauer vertrösten. Doch trotz aller Pannen war es ihm irgendwie gelungen, »good vibrations« zu verbreiten.
Lange war es her. Eineinhalb Jahrzehnte waren vergangen. Jugend ade.
Jetzt war Alexis Korner tot. Es führte einem die Vergänglichkeit vor Augen. Ein Kommen und Gehen auf dieser Welt.
Karola und Luca schliefen in der Silvesternacht tief und fest. Emma, Lollo, Otto und ich tranken vorab schon einen Mumm und schalteten langsam aber sicher in den Jahres-Abschiedsmodus. СКАЧАТЬ