Название: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil
Автор: Gustav Schwab
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783742772916
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So sprach die Göttin und erfüllte das Herz Helenas mit Sehnsucht nach ihrem Jugendgemahl
Menelaos, nach der Heimat und nach den Freunden. Sie hüllte sich schnell in einen silberweißen
Schleier, in welchen sie die Träne verbarg, die ihr an den Wimpern hing, und eilte, von Aithra und
Klymene, zweien ihrer Dienerinnen, gefolgt, nach dem Skäischen Tore. Hier saß auf den Zinnen König
Priamos mit den ältesten und verständigsten Greisen des trojanischen Volkes, Panthoos, Thymötes,
Lampos, Klytios, Hiketaon, Antenor und Ukalegon; die beiden letztern waren die verständigsten
Männer von Troja; sie alle ruhten zwar in ihrem hohen Alter vom Kriege aus, in der Ratsversammlung
aber war ihr Wort das tüchtigste. Als diese von der Höhe des Turmes Helena herankommen sahen,
flüsterten die Greise, die Gestalt der Fürstin bestaunend, einander leise zu: »Fürwahr, niemand soll
Trojaner und Griechen tadeln, daß sie für ein solches Weib so lange im Elend ausharren. Gleicht sie
doch einer unsterblichen Göttin an Herrlichkeit! Aber auch mit solcher Gestalt mag sie immerhin auf
den Schiffen der Danaer heimkehren, damit uns und unsern Söhnen nicht der Schaden
zurückbleibe!« Priamos aber rief Helena liebreich herbei: »Komm näher heran«, sprach er, »mein
Töchterchen, setze dich zu mir her, ich will dir deinen ersten Gemahl, deine Freunde und deine
Verwandten zu schauen geben; du bist mir nicht schuld an diesem jammervollen Kriege; die Götter
sind es, die ihn mir zugesendet haben. Nenne mir denn jenes gewaltigen Mannes Namen, der dort so
groß und herrlich über alle Danaer hervorprangt; an Haupt überragen ihn zwar hier und da noch
größere Männer in dem Heere, aber von so königlicher Gestalt habe ich doch noch keinen unter
ihnen gesehen.«
Ehrfurchtsvoll entgegnete Helena dem Könige: »Teurer Schwiegervater, Scheu und Furcht bewegen
mich, indem ich dir nahe. Mir wäre der bitterste Tod besser gewesen, als daß ich, Heimat, Tochter
und Freunde verlassend, deinem Sohne hierher gefolgt bin. In Tränen möchte ich zerfließen, daß es
geschah! Nun aber höre: der dort, nach dem du fragst, ist Agamemnon, der trefflichste König und ein
tapferer Krieger; er war, ach, er war dereinst mein Schwager!« »Glücklicher Atride«, rief Priamos aus,
den Helden sich betrachtend, »Gesegneter, dessen Zepter zahllose Griechen gehorchen! Auch ich
stand einst in männlicher Jugend an der Spitze eines großen Heeres, als wir die Horde der Amazonen
von Phrygien abwehrten; doch war mein Heer nicht so groß wie das deinige!« Dann fragte der Greis
von neuem: »Nenne mir nun auch noch jenen, Töchterchen; er ragt nicht so hoch empor wie der
Atride, aber seine Brust ist breiter, seine Schultern sind mächtiger; seine Wehr liegt zu Boden
gestreckt; er selbst umwandelt die Reihen der Männer wie ein Widder die Schafe.« »Das ist der Sohn
des Laërtes«, antwortete Helena, »der schlaue Odysseus; Ithaka, die felsige Insel, ist seine Heimat.«
Jetzt mischte sich auch der Greis Antenor ins Gespräch: »Du hast recht, Fürstin«, sagte er, »ihn und
Menelaos kenne ich gut; habe ich sie doch in meinem Haus als Gesandte einst beherbergt. Im Stehen
überragte Menelaos den Helden Odysseus; wenn sie sich aber beide gesetzt, erschien Odysseus als
der Herrlichere. Auch redete Menelaos wenig, lauter hingeworfene inhaltsreiche Worte. Odysseus
aber, wenn er reden wollte, stand da, die Augen zur Erde geheftet, den Stab unbeweglich in der
Hand, anzusehen wie ein Verlegener; man wußte nicht, ist er tückisch oder dumm. Sandte er aber
einmal die gewaltige Stimme aus der Brust, dann drängten sich seine Worte wie Schneeflocken im
Winter, und kein Sterblicher konnte sich mit Odysseus an Beredsamkeit messen.«
Priamos hatte sich indessen noch weiter umgeschaut. »Wer ist denn der Riese dort«, rief er, »der so
gar groß und gewaltig über alles Volk hervorragt?« »Das ist der Held Ajax«, antwortete Helena, »die
Stütze der Argiver; und weiter drüben steht wie ein Gott unter seinen Kretern Idomeneus. Ich kenne
ihn wohl; Menelaos hat ihn oft in unserer Wohnung beherbergt. Und ach, nun erkenne ich einen um
den andern, die freudigen Krieger aus meiner Heimat; hätten wir Muße, so wollte ich dir sie alle mit
Namen nennen! Nur meine leiblichen Brüder Kastor und Pollux sehe ich nicht. Sind sie wohl nicht mit
hierhergekommen? Oder scheuen sie sich, in der Schlacht zu erscheinen, weil sie sich ihrer Schwester
schämen?« Über diesem Gedanken verstummte Helena; sie wußte nicht, daß ihre Brüder schon
lange von der Erde verschwunden waren.
Während diese sich so unterredeten, trugen die Herolde die Bundesopfer durch die Stadt, welche aus
zwei Lämmern und aus einheimischem Weine zum Trankopfer, der in einen bocksledernen Schlauch
gefüllt war, bestanden. Der Herold Idaios folgte mit einem blinkenden Krug und goldenen Becher. Als
sie durchs Skäische Tor kamen, nahte dieser dem Könige Priamos und sprach zu ihm: »Mach dich auf,
König; beide, die Fürsten der Trojaner und der Griechen, rufen dich hinab ins Gefilde, damit du dort
einen heiligen Vertrag beschwörest. Dein Sohn Paris und Menelaos werden allein um das Weib mit
dem Speere kämpfen: wer im Kampfe siegt, dem folgt sie mitsamt den Schätzen. Alsdann schiffen die
Danaer nach Griechenland zurück.« Der König stutzte, doch befahl er seinen Gefährten, die Rosse
anzuschirren, und mit ihm bestieg Antenor den Wagensitz. Priamos ergriff die Zügel, und bald flogen
die Rosse durchs Skäische Tor hinaus aufs Blachfeld. Zwischen den beiden Völkern angekommen,
verließ der König mit seinem Begleiter den Wagen und stellte sich in die Mitte. Aus dem griechischen
Heere eilten jetzt Agamemnon und Odysseus herbei. Die Herolde führten СКАЧАТЬ