Название: Didaktik und Neurowissenschaften
Автор: Michaela Sambanis
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: narr studienbücher
isbn: 9783823300663
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Letztlich geht es darum, dass sich der LernprozessLernprozesse und damit die Hirnentwicklung den tatsächlich vorgefundenen Bedingungen anpassen. Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Sprache. Kommen in einer Sprache bestimmte Laute nicht vor oder sind die Grenzen zwischen Lauten nicht bedeutsam, werden sie in den sprachverarbeitenden Hirnarealen nicht gespeichert, z.B. die Trennung von /l/ und /r/ im Chinesischen. Die menschliche Sprache ist ein Kulturgut, das Erwachsene benutzen, oftmals während Kinder anwesend sind, teilweise zur Kommunikation mit anderen, teilweise zur Kommunikation mit dem Kind. Hier könnte man im Sinne Piagets von einer spontanen AneignungAneignung ausgehen. Trennscharf ist die Abgrenzung zwischen spontanem und „künstlich“ angeregtem Entwicklungsprozess aber nicht. Gut untersucht ist, dass es für die Sprachaneignung wichtig ist, dass Sprache im sozialen Kontext genutzt wird (vgl. Kuhl 2010). In vielen Kulturen wird auch mit den Kindern gesprochen, um die Sprachentwicklung zu fördern. In diesem Fall wird der Lern- und Erfahrungsvorgang von einer anderen Person bewusst angeregt und wir würden ihn nicht als spontanen Entwicklungsvorgang bezeichnen. Dem kindlichen Gehirn ist das letztlich gleichgültig. Die andere Person, ebenso wie die Anregungen, die von ihr ausgehen, sind Teil der Umwelt und wenn sie regelmäßig vorkommen – egal, ob mit dem Ziel, einen Entwicklungsprozess anzuregen oder zu einem anderen Zweck –, sind sie es wert, beachtet zu werden. Das, was in der Welt existiert, wird wahrgenommen. Wenn viel gesprochen wird, lernt das Kind schnell, egal, warum viel gesprochen wird. Wenn weniger gesprochen wird, lernt es langsamer und weniger Wörter (vgl. Spitzer 2015). Je nach Anregung aus der Umgebung lernen Kinder unterschiedliche Objekte, FertigkeitenFertigkeiten, Kategorien und Konzepte. Ein Kind, dessen Eltern einen Bauernhof besitzen, lernt ganz andere Dinge als ein Stadtkind. Ein Kind, dessen Vater Schreiner ist und der in seinem Beruf aufgeht, erfährt vielleicht schon sehr früh etwas über Werkzeuge, Holzarten und Hobeltechniken. Ein Kind, dessen Mutter Biologin ist, mag neben dem Namen Gänseblümchen auch den lateinischen Namen Bellis perennis kennen. Vielleicht hat ihm seine Mutter auch erklärt, dass das Gänseblümchen zur Familie der Korbblütler gehört und z.B. mit dem Löwenzahn und der Aster verwandt ist. Ohne größere Schwierigkeiten wird das Kind auch eine Margerite oder eine Ringelblume als Korbblütler erkennen – ebenso leicht wie ein kleiner Autofan das neueste Modell einer bestimmten Automarke zuordnen kann.
An den Beispielen sieht man, dass es in der Welt vieles gibt, das vielleicht relevant ist, aber nicht regelmäßig in der Umwelt aller Kinder vorkommt. Um dem zu begegnen, haben Menschen eine Art Katalog des notwendigen Wissens aufgestellt, dieses Wissen systematisiert und sich überlegt, wie sie es an die Kinder und Jugendlichen herantragen. Zu diesem Zweck schicken wir Kinder und Jugendliche in Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Damit erzeugen wir allerdings eine Situation, die von unserer Seite aus mit der Erwartung verbunden ist, dass das Gehirn etwas Bestimmtes lernt, dass ein exakt definiertes Lernziel erreicht oder auch eine bestimmte Kompetenz erworben wird. Darauf sind Gehirne aber nicht ausgerichtet. Sie lernen nicht das, was man ihnen zu lernen aufträgt, sondern die Dinge, die häufig vorkommen oder die sie selbst häufig tun (zu Üben und Wiederholen im Unterricht vgl. das Praxisfenster in Kap. 6).
Ein wichtiger Aspekt hierbei ist, dass der sich entwickelnde Organismus im Rahmen seiner Möglichkeiten genau die Erfahrungen erzeugt, aufsucht oder wiederholt, die seiner Entwicklung im gegenwärtigen Moment von allen in der jeweiligen Situation verfügbaren Erfahrungen am dienlichsten sind. Der Organismus sucht sich also einen Teil seiner Erfahrungen selbst. Dabei können die Beschränkungen der in einer Umgebung möglichen Erfahrungen ebenso negative und beeinträchtigende Effekte auf die Entwicklung haben wie ungeeignete und schädliche Erfahrungen. Beispielsweise kann ein Kind, das die Veranlagung besitzt, ein virtuoser Pianist zu werden, dies nicht umsetzen, wenn in seiner Umgebung nicht die Möglichkeit besteht, das Klavierspiel zu erlernen – etwa aufgrund kultureller Gegebenheiten, wenn es in seiner Kultur keine Klaviere gibt, oder aufgrund sozialer Gegebenheiten, wenn die Familie sich weder ein Klavier noch die Kosten der Klavierstunden leisten kann. Auch die Frage nach dem „relativen Anteil“, den genetische Voraussetzungen und (gesellschaftlich geprägte) Erfahrungseinflüsse auf die Ausbildung von Eigenschaften haben, lässt sich nicht ganz eindeutig beantworten. Für viele Eigenschaften bewegt sich der Einfluss der Umwelt in westlichen Gesellschaften zwischen 40 und 60 %. In der – rein hypothetischen – „besten aller Welten“, in der jeder heranwachsende Mensch zu jeder Zeit genau die Möglichkeiten und Lernanreize bekäme, die er in dem Moment zur optimalen Entwicklung benötigte, würden alle Unterschiede zwischen den Individuen nur noch auf genetische Faktoren zurückgehen, denn die Umwelteinflüsse würden der Entwicklung keine Grenzen mehr auferlegen (vgl. Asendorpf et al. 2012).
Um in der Entwicklung weiterzukommen, greift das Gehirn zu einem Trick: Dinge, Konzepte und Ereignisse, die längst bekannt und gelernt sind, sind langweilig (zu Langeweile vgl. 3.7). Kinder wenden sich von ihnen ab. Neues löst Interesse und Zuwendung aus, es sei denn, es ist so fremd und anders, dass man davor AngstAngst haben müsste oder dass man es, wenn es sich um eine Tätigkeit handelt, einfach nicht hinbekommt. Wir nennen die Hinwendungsreaktion auf Neues „NeugierNeugier“. Das, was gerade noch nicht gelernt ist, aber nahe genug am schon Bekannten ist, suchen Kinder aktiv auf bzw. wählen die entsprechenden Anregungen aus dem vorhandenen Angebot. In dieser Weise formt und fördert das kindliche Gehirn seine eigene Entwicklung sozusagen selbst (vgl. Johnson 2003), es sei denn, es wird durch ungünstige Umgebungsbedingungen daran gehindert. Dabei ist von außen oft nicht einmal zu erkennen, dass das Kind beispielsweise gerade etwas über Satzbau oder soziale Beziehungen lernt, wenn es sich das immer selbe Märchen zum einhundertsten Mal vorlesen lässt oder dass es gerade etwas über Statik oder Mengen und Gewichte lernt, wenn es im Sand spielt.
An den Beispielen sieht man aber auch sehr gut, dass der Austausch mit Erwachsenen oder mit erfahreneren Kindern durchaus wichtig für das sich entwickelnde Kind ist, etwa, wenn Zusammenhänge erklärt oder soziale Situationen gemeinsam reflektiert werden. Diese gemeinsame Auseinandersetzung, der soziale Austausch, ist für die Hirnentwicklung und die LernprozesseLernprozesse sogar zwingend notwendig. Kinder, die ohne soziale Unterstützung ihrer Lern- und Entwicklungsprozesse auskommen müssen, bleiben in ihrer Entwicklung zurück. Dabei ist Sprache, die die Wahrnehmung, das DenkenDenken und Konzepte verdeutlicht, ein zentrales Element. Wie wichtig Sprache ist, lässt sich an den verheerenden Folgen erkennen, die sich zeigen, wenn ein Kind nicht hören und sprechen kann und zudem keine Gebärdensprache als Kommunikationsmittel zur Verfügung steht, wenn also keine Anregung durch Kommunikation möglich ist. Aber auch eine eingeschränkte Anregung, etwa aufgrund von Vernachlässigung oder, je nach Qualität der Einrichtung möglicherweise auch durch Heimunterbringung, führt zu Defiziten sowohl in der kognitiven als auch in der sozialen Entwicklungsoziale Entwicklung, die oft nur schwer auszugleichen sind (vgl. Marshall & Kenney 2009). Ebenso hat die Benachteiligung etwa durch niedriges Familieneinkommen und niedrigen Bildungsstand der Eltern nachweisbare Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns (vgl. Noble et al. 2015). Selbst die übliche Variationsbreite in der Form und Intensität der elterlichen Zuwendung führt zu Unterschieden in der Hirnstruktur von Kindern (vgl. Kok et al. 2015). Das menschliche Gehirn ist also tatsächlich darauf ausgerichtet, derartige Anregungen zu erhalten. Nur so kann ein Kind sich normal entwickeln und nur so kann es unser kulturelles Erbe antreten.
Dass wir Kindern in der sozialen Situation Wissen zur Verfügung stellen, sie also unterrichten, ist für das Gehirn nicht unerwartet und nicht das „Problem“ an der Schule. Allerdings lassen wir in der Schule die aktive Suche nach der gerade passenden Anregung und dem zugehörigen sozialen Austausch häufig nicht zu. Vielmehr wird oft vorgeschrieben, was der nächste Lernschritt sein soll – und der passt manchmal zu dem, was im Gehirn СКАЧАТЬ