Название: Didaktik und Neurowissenschaften
Автор: Michaela Sambanis
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: narr studienbücher
isbn: 9783823300663
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Gemäß ihrem Auftrag beschäftigt sich die Medizin mit Diagnose und Therapie von Erkrankungen. Daher kann es nicht verwundern, dass in der Medizin im Hinblick auf die AufmerksamkeitAufmerksamkeit Untersuchungen zum Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHSAD(H)S, früher Hyperkinetisches Syndrom HKS) einen Schwerpunkt darstellen und diesem Syndrom ein Krankheitswert zugeschrieben wird. Auch aus neurowissenschaftlicher Sicht sind Studien und Erklärungsmodelle zu ADHS äußerst interessant. Die Untersuchung von ADHS eröffnet die Möglichkeit, neuronale Grundlagen eines wichtigen Aspekts von Aufmerksamkeit zu untersuchen, nämlich die Grundlagen der bewussten Aufmerksamkeits- und Handlungskontrolle. Selbstredend sind dabei neuronale und neurophysiologische Aspekte von ADHS der Untersuchungsgegenstand, etwa die Verbindungen zwischen Nervenzentren und die Rolle neuronaler Botenstoffe für die funktionierende oder eben nicht funktionierende Aufmerksamkeitskontrolle. Dabei werden auch die genetischen Grundlagen dieser neurobiologischen Prozesse einbezogen.
Ein erstes, grundlegendes Missverständnis besteht nun darin, dass angenommen wird, medizinisch-neurowissenschaftliche Studien und die daraus erwachsenden Erklärungsmodelle für Erkenntnisse zu ADHSAD(H)S könnten als Erklärung für alle Formen von Unaufmerksamkeit und Desinteresse bei Schülerinnen und Schülern betrachtet werden. Das ist sicherlich nicht der Fall. In medizinischen Kreisen wird nicht übersehen, dass vielfältige andere Ursachen körperlicher und nichtkörperlicher Art Unaufmerksamkeit hervorrufen können (z.B. Schlafmangel, Fehlernährung, psychische Erkrankungen, Störungen der Schilddrüsenfunktion, Schädel-Hirn-Traumata, psychische Traumata, mangelnde Motivation, psychische oder familiäre Belastungssituationen, Mobbing).1
Das zweite Missverständnis entsteht, wenn man die oben beschriebene medizinische Perspektive und den gesellschafts- und kulturkritischen Diskurs, der gesellschaftliche Veränderungen und damit Veränderungen der Lebensbedingungen als Ursache für ADHSAD(H)S/Aufmerksamkeitsprobleme betrachtet,2 als miteinander unvereinbar gegenüberstellt (z.B. von Stechow 2015: 12). Auch wenn diese Interpretation einer Unvereinbarkeit der Positionen des Öfteren vorgebracht wird, entbehrt sie doch jeder wissenschaftlichen Grundlage und hat keinerlei Erklärungswert. Sie ist lediglich eine Variante der Nature-versus-Nurture-Debatte, die im vergangenen Jahrhundert geführt wurde. Seit Beginn des aktuellen Jahrhunderts liegen ausreichend Belege dafür vor, dass das Zusammenspiel natürlicher Anlagen und umweltbedingter Erfahrungen so eng und wechselseitig rekursiv verwoben ist, dass eine Trennung oder Gegenüberstellung der Positionen das Verständnis der Entstehung von Merkmalen lebender Organismen nicht unterstützt, sondern vielmehr behindert. Wie in Kapitel 2 ausführlich beschrieben, entwickeln sich sämtliche Hirnfunktionen unter dem Einfluss der von außen kommenden Erfahrungen. Das gilt auch für die Entwicklung der AufmerksamkeitAufmerksamkeit. Ohne Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit der Umwelt finden Entwicklung, neuronale Verknüpfungen und LernprozesseLernprozesse nicht statt und sind daher ohne eine Berücksichtigung der Lebens- und Erfahrungsbedingungen auch nicht zu verstehen (vgl. 2.7).
Insgesamt gilt es, die Diskurse und die Erkenntnisse der verschiedenen Disziplinen zusammenzuführen und dabei AufmerksamkeitAufmerksamkeit sowohl als Eigenschaft des lernenden Individuums als auch im pädagogisch-didaktischen Sinne als Bestandteil und Voraussetzung des Lehr-und LernprozessesLernprozesse zu betrachten. Das ist kein einfaches Unterfangen, zumal unter dem Begriff Aufmerksamkeit unterschiedliche Konstrukte zusammengefasst werden, die sich teilweise ergänzen, teilweise unabhängig voneinander sind und unterschiedliche Funktionen haben. Die Gemeinsamkeit der verschiedenen Konstrukte wird in einem Zitat von William James (1842–1910) deutlich:
Jeder weiß, was AufmerksamkeitAufmerksamkeit ist. Es ist das klare und lebhafte Besitzergreifen des Geistes von einem von mehreren scheinbar gleichzeitig möglichen Objekten oder Gedankengängen. Fokussierung, KonzentrationKonzentration, Bewusstsein sind ein wesentlicher Teil. Sie beinhaltet die Abwendung von einigen Dingen um sich effektiv mit anderen zu befassen. (vgl. James 1890: 381, Übersetzung durch die Autorinnen).
Gemeinsam ist allen Konstrukten also die Hinwendung zu etwas Bestimmten und damit verbunden die Nichtbeachtung von etwas anderem. Dieses weist bereits auf die Bedeutung begrenzter Ressourcen des menschlichen Geistes hin, die bei Aufmerksamkeitsprozessen eine Rolle spielen. Zugleich werden in dem Zitat die verschieden Varianten von AufmerksamkeitAufmerksamkeit deutlich: Aufmerksamkeit kann sowohl (äußere) Objekte als auch Gedankengänge betreffen, sich also nach außen und auf die Wahrnehmung richten, oder auch nach innen. In diesem Kapitel sollen die unterschiedlichen Formen von Aufmerksamkeit dargestellt und in ihrer Bedeutung für LernprozesseLernprozesse betrachtet werden, um so einen Beitrag für die Praxis, aber auch für den weiteren Diskurs zu leisten.
3.2 Wachheit, Kapazität und Grenzen von AufmerksamkeitAufmerksamkeit
Aufmerksamkeitsprozesse sind notwendig, weil unsere Ressourcen, Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazitäten begrenzt sind (vgl. Broadbent 1958). Das hat sowohl strukturelle wie auch energetische Ursachenenergetische Ursachen, die im Aufbau und der Funktionsweise unseres Gehirns als Organ begründet liegen. Der energetische Aspekt der AufmerksamkeitAufmerksamkeit ist direkt erfahrbar. Jeder, der sich schon einmal über längere Zeit konzentriert einer Aufgabe gewidmet hat, kennt das Phänomen der Ermüdung. Sind wir ermüdet, lässt unsere Fähigkeit, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, nach. Wie intensiv wir die prinzipiell vorhandenen Verarbeitungskapazitäten nutzen können, ist also abhängig von unserer Wachheit. Mehrere Aspekte tragen zu einem hohen Grad an Wachheit bei. Der eine ist schlicht die Versorgung des Gehirns mit EnergieEnergie in Form von Glucose1 und mit ausreichend Sauerstoff. Ohne diese beiden „Brennstoffe“ sind die Gehirnfunktionen deutlich eingeschränkt. Der zweite Aspekt ist unsere allgemeine Wachheit im Gegensatz zum SchlafSchlaf. Der Schlaf-Wach-Rhythmus wird vom ThalamusThalamus und HypothalamusHypothalamus im Zwischenhirn und von der Formatio reticularis im HirnstammHirnstamm gesteuert. Bestimmte Teile der Formatio reticularis sind zentrale Signalgeber für Wachheit und unterstützen Aufmerksamkeitsprozesse. Dieses sogenannte aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem besteht aus einem tonischen Anteil, der an der unspezifischen allgemeinen Wachheit oder Müdigkeit beteiligt ist, und aus einem phasischen Anteil, der über Botenstoffe spezifisch auf die verschiedenen Teile der GroßhirnrindeGroßhirnrinde einwirken kann und diese in einen Zustand erhöhter AktivierungAktivierung versetzt (vgl. Carter 2012: 303–304). Somit trägt das aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem auf zwei Wegen zu unserer Aufmerksamkeit bei und bestimmt u.a. wie lange wir unsere Aufmerksamkeit aufrechterhalten können, z.B. auch unsere Aufmerksamkeitsspanne in langweiligen, reizarmen Situationen (zu Langeweile im Unterricht vgl. 3.7), unter Bedingungen, in denen immer das Gleiche passiert oder wenn monotone Handlungen gefordert sind (etwa bei der Fließbandarbeit).
Natürlich sind Wachheit und AufmerksamkeitAufmerksamkeit nicht nur von automatisch ablaufenden biologischen Mechanismen abhängig. Vielmehr reagiert unser Organismus auf äußere Ereignisse ebenso wie auf innere „Ereignisse“, etwa eine emotionale Bewertung und emotionale Bedeutsamkeit einer Situation. Verschiedene positive und negative EmotionenEmotion (Schreck, Angst, Überraschung, Freude, Verliebtheit, vgl. Kap. 4) führen zu einer höheren Erregung und damit zu einer verbesserten Möglichkeit, aufmerksam zu sein. Auch unsere MotivationMotivation und das Interesse an einem Gegenstand oder Geschehen steigert die Aufmerksamkeitskapazität. Intrinsische Motivation und echtes Interesse spiegeln die interne Bewertung „wichtig“ und wenn etwas wichtig ist, dann unterstützt das Gehirn die Hinwendung der Aufmerksamkeit. Die bewertungsbasierte Hinwendung ist daher mit wenig Anstrengung verbunden. Ganz anders ist das, wenn wir uns bewusst einem Gegenstand, einer Handlung oder einem Geschehen zuwenden, weil wir das für notwendig halten, СКАЧАТЬ