Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte. Группа авторов
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte - Группа авторов страница 13

СКАЧАТЬ gebrauchen Sprachen bereits sehr früh völlig verschieden. Bei der Entwicklung der frühen Lesekompetenzen zeigen sich die größten Unterschiede. Gendersensible sprachendidaktische Konsequenzen bleiben im institutionalisierten Sprachenlernen jedoch bis heute begrenzt.

      In diesem Kapitel wird auf der Basis der frühen genderspezifischen Sprachentwicklung ein Forschungsprojekt mit Ergebnissen zur Entwicklung früher Lesekompetenzen mehrsprachiger Kinder dargestellt. Anschließend werden vor diesem Forschungshintergrund erste evidenzbasierte, konkrete, sprachenübergreifende didaktische Konsequenzen für die unterrichtliche Umsetzung gezogen. Im Zentrum der Überlegungen stehen individuelle und differenzierte Fördermaßnahmen, die als professionelles Diversity Management ein Sprachenkontinuum für alle, insbesondere mehrsprachige, Lernkontexte möglich machen sollen.

      Einleitung

      Mädchen und Jungen lernen und gebrauchen Sprachen generell völlig unterschiedlich (Schmithorst/Holland/Dardzinski 2008: 2; Plante/Schmithorst/Holland/Byars 2006), ungeachtet eines monolingualen oder bilingualen Aufwachsens. Diese gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis hat bislang noch nicht zu weiterführenden, reflektierten didaktischen Maßnahmen im frühen Sprachunterricht geführt, ungeachtet dessen, ob es sich um muttersprachlichen oder fremdsprachlichen Unterricht handelt. Dabei sind die Unterschiede alles andere als marginal. Mädchen sind nach Befunden der nicht spezifisch neurowissenschaftlichen, so z.B. der psycholinguistischen oder entwicklungspsychologischen Spracherwerbsforschung, Jungen im Erstsprachenerwerb sehr früh in folgenden Kompetenzbereichen leicht überlegen (vgl. z.B. Craig/Washington/Thompson 2005; Halpern 1992; Heaton/Ryan/Grant/Matthews 1996; Hyde/Linn 1988; Irwin/Whalen/Fowler 2006; Jackson/Roberts 2001; Kimura 1999; Majeres 1999; Rome-Flanders/Cronk 1995):

       Sprachproduktion und Sprachflüssigkeit,

       vorsprachliche Fertigkeiten,

       spontane Sprechbereitschaft,

       Rechtschreibung,

       generelle Sprachfähigkeit,

       Grammatikverwendung,

       Wortgedächtnis,

       Wortzuordnungsgeschwindigkeit,

       Wortlesen.

      Jungen dagegen besitzen entwicklungsbedingte Vorteile bezüglich des Verstehens von Wortanalogien (u.a. Hyde/Linn 1988). Trotz aller leichter weiblicher Überlegenheit ist jedoch bewiesen, dass Jungen nicht weniger reden als Mädchen, nur die Inhalte sowie der Wortartengebrauch sind unterschiedlich (vgl. Morling 2011: 170).

      Mit speziellem Blick auf bekannte genderspezifische Unterschiede bei metaphorischer Lesekompetenz ist noch erwähnenswert, dass Mädchen sich in der Regel etwas früher in Personen einfühlen können (vgl. Böttger 2016: 87).

      Der Blick direkt ins Gehirn, durch moderne bildgebende radiologische Verfahren, unterstreicht die obigen Befunde und fügt neue Unterschiede hinzu. Im Folgenden sollen insbesondere solche Differenzen thematisiert werden, die sich auf die Alphabetisierung bzw. die Entwicklung der Lesekompetenzen zwei- und mehrsprachiger Kinder beziehen.

      1. Neue Forschungsansätze zu gendersensiblen Fragestellungen

      Wie lassen sich genderspezifische Unterschiede bei der Sprachverarbeitung darstellen und werten?

      Genderspezifische sprachliche Entwicklungen überhaupt zu identifizieren, ist schon deshalb eine Herausforderung, da neben den Variablen, die sich aus den zerebralen Unterschieden ergeben (vgl. Böttger 2016: 88), auch soziokulturelle Einflüsse wie beispielsweise Erziehung, Leitbilder oder Medien (ebd. 80f.) miteinbezogen werden müssen. Eine isolierte Betrachtung der rein biologischen Geschlechtsunterschiede verfälscht jede Interpretation: „Gender studies claim that a clear-cut distinction between a biological sex and a social gender does not exist“ (vgl. Butler 1990; Fausto-Sterling 2000). Gendersensible und -spezifische Forschungsdesigns in der Spracherwerbsforschung betrifft dies somit ebenfalls. Generalisierte sprachendidaktische Schlussfolgerungen sind deshalb nicht ohne qualitative Forschungsinstrumente wie z.B. zusätzliche Leitfadeninterviews mit den Kindern und ihren Erziehungsberechtigten sowie Lehrkräften und Betreuer/innen zu möglichen Einflussfaktoren wie Herkunft, häusliche Förderung etc. möglich.

      Der Forschungsfokus bzw. das Erkenntnisinteresse dieses Kapitels lässt sich auf zwei Fragestellungen komprimieren:

      1 Welche genderspezifische Entwicklung nehmen die Lesekompetenzen mehrsprachiger Kinder?

      2 Wie lassen sich die Befunde zur genderspezifischen Entwicklung im schulischen Sprachenunterricht berücksichtigen?

      Forschungsüberlegungen und -instrumente

      Zur Beantwortung solch komplexer Forschungsfragen sind Forschungsansätze über mehrere Wissenschaften hinweg nötig. Im an dieser Stelle beschriebenen interdisziplinären Forschungsprojekt zu allgemein genderspezifischen Sprachentwicklungsunterschieden trat neben die Recherche und Berücksichtigung aller ab etwa 1980 bereits bekannter relevanten Forschungsbefunde zur Thematik deren systematischer Vergleich in einer analytischen Cross-sciences-Metastudie. Medizinische, psychologische, psycholinguistische Erkenntnisse und solche der Sprachverhaltensforschung, der Biologie sowie der Neurowissenschaften wurden berücksichtigt. Insbesondere die Anzahl der genderspezifischen neurowissenschaftlichen Untersuchungen durch radiologische Bildgebung per fMRi (functional magnetic resonance imaging) wächst (vgl. Kaiser/Haller/Schmitz/Nitsch 2009) sowohl insgesamt als auch anteilig an allen fMRi-Studien und fMRi-Publikationen weltweit. Die Aussagekraft der educational neurosciences ist zunächst auf die reine Bildgebung beschränkt, kann jedoch gerade durch den Abgleich mit Ergebnissen der nicht neurowissenschaftlichen Spracherwerbsforschung mit diesen in Beziehung gesetzt werden, sie bestätigen oder neue Fragestellungen aufwerfen.

      Die radiologische Bildgebung per fMRi nutzt die Magnetresonanz von Wasserstoffatomen. Sie ermöglicht eine für die Spracherwerbsforschung relevante Erkundung neuronaler Substanzen der menschlichen Kognitionsfunktionen. Dazu werden die aufgabenbezogenen Veränderungen und Ereignisse in zerebralen Regionen bezüglich Blutfluss und Sauerstoffkonzentration visualisiert.

      Dargestellt kann also werden, in welcher Intensität an welcher Stelle des Gehirns Aktivitäten stattfinden. Speziell für die nachfolgend beschriebene Untersuchung macht das fMRi das Volumen bestimmter Gewebe im Gehirn sichtbar. Wie schnell sich beispielsweise Wasser in diesem Gewebe verteilt, kann die Konsistenz des Gewebes bestimmen. Das Diffusion-tensor-imaging-Verfahren (vgl. Schmithorst et al. 2008: 15) misst diese Diffusionsbewegung von Wassermolekülen und lässt zu, sie räumlich aufgelöst dreidimensional darzustellen (vgl. Le Bihan/Mangin/Poupon/Clark/Pappata/Molko/Chabriat 2001). So entstehen aus physikalisch-radiologischen Messungen Bilder mit Aussagekraft.

      Auf dieser theoretischen Grundlage erfolgten eigene Messungen und Berechnungen zu den relevanten neurobiologischen Unterschieden in Lincoln/Nebraska/USA im September 2014 sowie April 2015, genauer an der University of Nebraska-Lincoln, Center for Brain, Biology and Behavior & Medical Center. Die Forschergruppe bestand aus Neuropsychologen, Radiologen und dem Autor.

      Auswirkungen auf die Spracherwerbsleistungen haben, so die Grundüberlegung der Forschergruppe, vor allem der unterschiedliche Gebrauch der Hirnhälften sowie die verschiedenen Leitungsgeschwindigkeiten von Hirnzelle zu Hirnzelle.

      Im ersten Fokus der Untersuchungen standen die speziellen Verbindungen der Nervenzellen, die Axone. Über sie kommunizieren die Gehirnzellen miteinander, sie sind durch sogenannte Myelin-Schichten СКАЧАТЬ