Название: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Автор: Pierre Bayard
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783888978562
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So könnte man William Marx folgen, wenn er feststellt, dass sich Valéry weniger für ein bestimmtes Werk als für seine »Idee« interessiert:
»So wie die universitäre Kritik versuchte, so viele Unterlagen wie möglich anzuhäufen und den außerliterarischen Quellen (Korrespondenzen, persönliche Dokumente usw.) eine besondere Bedeutung in ihrer Arbeit beimaß, so will eine Kritik im Sinne Valérys ihren Gegenstand so stark wie möglich eingrenzen, bis in ihrem Betrachtungsfeld nur noch das Werk selbst übrig bleibt, sogar weniger als das Werk: die einfache Idee des Werks.«[21]
Die Chancen, Zugang zu diesem »weniger als das Werk«, zu seiner Idee, zu bekommen, stehen besser, wenn man ihm nicht allzu nahe kommt, da man sonst Gefahr läuft, sich in seiner Besonderheit zu verlieren. Somit hat der Kritiker vielleicht die besten Erfolgsaussichten, das zu entdecken, was ihn interessiert, wenn er die Augen schließt vor dem Werk und sich, um über es hinauszugehen, vorstellt, was es sein könnte: das, was es nicht ist, sondern was es mit anderen gemeinsam hat. Demzufolge bedeutet jede allzu aufmerksame, wenn nicht sogar jede Lektüre ein Hindernis, den Gegenstand in seiner ganzen Tiefe zu erfassen.
Mit dieser Poetik der Distanz erfährt eine unserer gebräuchlichsten Beziehungsarten zum Buch durch Valéry eine rationale Begründung: das Querlesen. Tatsächlich ist es recht selten, dass wir ein Buch in der Hand haben, das wir von der ersten bis zur letzten Zeile lesen, falls eine solche Praxis überhaupt möglich ist. Meistens tun wir mit den Büchern das, was Valéry für seine Proust-Lektüre geltend macht: Wir lesen es quer.
Dieser Begriff des Querlesens kann auf mindestens zwei Arten verstanden werden. Im ersten Fall ist das Vorgehen linear. Der Leser beginnt den Text am Anfang, geht dann dazu über, Zeilen oder Seiten zu überspringen, und nähert sich langsam dem Ende, ob er es nun erreicht oder nicht. Im zweiten Fall ist das Vorgehen zirkulär, da der Leser nicht für eine geordnete Lektüre optiert, sondern im Buch herumschweift und unter Umständen sogar mit dem Ende beginnt. Diese Methode drückt genauso wenig wie die erste irgendeine Geringschätzung aus. Sie stellt ganz einfach eine der gängigen Beziehungsarten zu einem Buch dar und sagt noch nichts über die Meinung des Lesers aus.
Die Prägnanz dieser Aneignung erschüttert jedoch spürbar den Unterschied zwischen Lesen und Nichtlesen oder sogar den Begriff des Lesens selbst. In welche Kategorie soll man all jene einordnen, die eine bestimmte Zeit, gar Stunden mit einem Buch verbracht haben, ohne es vollständig zu lesen? Soll man, wenn sie darüber sprechen müssen, sagen, dass sie über ein Buch sprechen, das sie nicht gelesen haben? Eine vergleichbare Problematik stellt sich für all jene, die wie Musils Bibliothekar an der Peripherie des Buches stehen bleiben. Man kann sich fragen, wer von beiden der bessere Leser ist, derjenige, der ein Werk gründlich liest, ohne es einordnen zu können, oder derjenige, der sich in keines vertieft, aber über alle Bescheid weiß.
Wie man sieht, ist es nicht einfach – und das Ganze wird sich noch mehr zuspitzen –, genau zu bestimmen, was das Nichtlesen und mithin was das Lesen ist. Es scheint, dass wir uns gewöhnlich, jedenfalls was die Bücher betrifft, die uns innerhalb einer vorgegebenen Kultur begleiten, in einem Zwischenbereich bewegen, sodass man in den meisten Fällen gar nicht so leicht sagen kann, ob man sie gelesen hat.
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Genauso wie Musil regt auch Valéry dazu an, in Begriffen der kollektiven Bibliothek statt des einzelnen Buches zu denken. Für einen echten Leser, der die Literatur durchdringen möchte, zählt nicht das einzelne Buch, sondern die Ganzheit aller andern, und wenn man seine gesamte Aufmerksamkeit einem bestimmten unter ihnen schenkt, läuft man Gefahr, das Ganze aus dem Blick zu verlieren und damit das, was in jedem Buch an dieser umfassenderen Organisation teilhat, die uns erlaubt, es von Grund auf zu verstehen.
Doch Valéry schlägt vor, noch einen Schritt weiter zu gehen, wenn er uns auffordert, jedem Buch mit dieser Haltung zu begegnen und stets diesen Überblick anzustreben, der im Interesse einer Gesamtsicht auf alle Bücher liegt. Die Suche nach dieser Perspektive bedingt, dass man darauf achtet, sich nicht in einem einzelnen Abschnitt zu verlieren und also eine vernünftige Distanz zum Buch zu halten, die allein es ermöglicht, seine wahre Bedeutung einzuschätzen.
1 PAUL VALÉRY, Œuvres I, QB +, Paris 1957, S. 1479
2 EB +
3 UB und EB ++
4 PAUL VALÉRY, Werke, Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, Band 3, Zur Literatur, 1989, S. 421
5 Ibid.
6 Ibid.
7 Ibid.
8 Ibid., S. 424, Hervorhebungen vom Autor
9 Ibid., S. 426
10 Ibid., S. 353f.
11 Ibid., S. 362
12 Ibid., S. 362f.
13 Ibid., S. 370
14 Ibid., S. 372
15 Ibid., S. 373
16 Ibid., S. 151
17 Ibid.
18 Ibid., S. 152
19 Ibid.
20 Ibid., S. 154f.
21 WILLIAM MARX, Naissance de la critique moderne, UB +, Arras 2002, S. 25
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