Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Pierre Bayard
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Название: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Автор: Pierre Bayard

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783888978562

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      Dass Valéry unbedingt den Eindruck zu vermeiden sucht, er könnte Anatole France gelesen haben, mag vielleicht auch mit dem Hauptvorwurf zusammenhängen, den er ihm macht, nämlich zu viel zu lesen. France, den er als unermüdlichen Leser bezeichnet – was bei Valéry einer Beschimpfung gleichkommt –, ist jemand, der sich, ganz anders als sein Nachfolger an der Académie, in den Büchern verirrt hat:

      Dieser Leseexzess hat bei France zum Verlust seiner Originalität geführt. Denn genau das ist aus Sicht Valérys die Hauptgefahr, die das Lesen für einen Schriftsteller darstellt, weil es ihn in Abhängigkeit zu anderen bringt:

      »Meine Herren, das gelehrte, feinsinnige Mitglied Ihrer Vereinigung hat der großen Zahl gegenüber kein Unbehagen verspürt. Sein Geist war widerstandsfähiger. Um sich vor solchem Widerwillen und vor dem Schwindel, den die Statistik erregt, zu bewahren, hatte er nicht nötig, nur sehr wenig zu lesen. Fern von allem Gefühl der Bedrücktheit, regte ihn dieser Reichtum an, dem er soviel Belehrung und glückliche Wirkungen für Art und Bedarf seiner Kunst entnahm.

      Einer der Schlüssel zur Lektüre des Textes ist in der Formel zu finden, die sich antithetisch zu Frances Vorgehen verhält, »zu ignorieren, was man weiß«. Die Bildung trägt die Bedrohung in sich, in den Büchern der anderen stecken zu bleiben, was unbedingt zu vermeiden ist, will man selbst schöpferisch sein. Kurz, France, der keinen persönlichen Weg zu finden wusste, ist geradezu ein Paradebeispiel für die schädlichen Folgen des Lesens, und man versteht, dass Valéry nicht nur sorgsam darauf achtet, kein einziges Mal aus seinem Werk zu zitieren oder es auch nur zu erwähnen, sondern sogar seinen Namen zu nennen, als könnte schon das Aussprechen ihn in einen identischen Prozess des Selbstverlusts verwickeln.

      ∗

      Das Problem bei diesen »Würdigungen« Prousts oder Anatole Frances ist, dass sie Misstrauen streuen auf alle anderen Texte, die Valéry Schriftstellern gewidmet hat, weil man sich unweigerlich fragt, ob er sie gelesen oder wenigstens kurz überflogen hat. Sobald Valéry zugibt, dass er wenig liest, sich aber mit seiner Meinung trotzdem nicht zurückzuhalten gedenkt, wird auch die kleinste, noch so harmlose seiner kritischen Bemerkungen suspekt.

      Nach einer solchen Einleitung dürfte man eigentlich erwarten, dass diese Komplimente eine Spur von Rechtfertigung erfahren und Valéry – warum nicht? – sein Verhältnis zu Bergson etwas näher ausführen würde. Diese Hoffnung aber gibt der Leser rasch auf, denn die Formel, die den nächsten Abschnitt einleitet, ist zu denen zu zählen, die man gewöhnlich für Kommentare zu nicht gelesenen Texten reserviert:

      Es steht im Falle Valéry ganz zu befürchten, dass die Weigerung, auf Bergsons Philosophie einzugehen, keine Floskel ist, sondern wörtlich genommen werden muss. Und die Fortsetzung des Textes wirkt nicht gerade beruhigend, was Valérys Kenntnis seines Denkens betrifft:

      Dass sich Bergson mit der Zeit und dem Gedächtnis auseinandergesetzt hat – welcher Philosoph hat das nicht? –, sagt noch nicht viel aus über sein Werk oder dessen Originalität. Lässt man die wenigen Zeilen über die Gegenüberstellung von Bergson und Kant außer Acht, bleibt der Text so vage, dass er sich zwar wunderbar auf Bergson anwenden lässt, genauso jedoch auf viele andere Autoren, die von diesen konventionellen hagiografischen Floskeln ebenso zutreffend beschrieben würden.

      Offensichtlich kann Valéry es nicht lassen, mit einer Gehässigkeit zu schließen, schafft es doch die freundliche Wendung »der letzte große Name in der Geschichte der europäischen Intelligenz« nur mit Mühe, die Härte der vorangehenden abzumildern, mit der Bergson charmant in ein »vergangenes Zeitalter« abgeschoben wird. Wenn man sie liest und Valérys Leidenschaft für die Bücher kennt, muss man annehmen, dass er die überholte Stellung des Philosophen innerhalb der Ideengeschichte vor allem zu Protokoll nimmt, um seine Werke nicht aufschlagen zu müssen.

      ∗

      Diese Praxis der Kritik ohne Autor und Text hat nichts Absurdes an sich. Sie beruht bei Valéry auf einem fundierten Begriff von Literatur, dessen einer СКАЧАТЬ