Название: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Автор: Pierre Bayard
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783888978562
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Schlimmer noch, Valéry hütet sich, auch nur ein einziges Mal den Schriftsteller, auf dessen Sitz er folgen wird, beim Namen zu nennen, sondern verweist nur andeutungsweise durch Wortpiele auf ihn: »Nur in Frankreich, dem er seinen Namen entlieh, war er selbst möglich und anderswo kaum vorstellbar.«[13]
Dass Valéry unbedingt den Eindruck zu vermeiden sucht, er könnte Anatole France gelesen haben, mag vielleicht auch mit dem Hauptvorwurf zusammenhängen, den er ihm macht, nämlich zu viel zu lesen. France, den er als unermüdlichen Leser bezeichnet – was bei Valéry einer Beschimpfung gleichkommt –, ist jemand, der sich, ganz anders als sein Nachfolger an der Académie, in den Büchern verirrt hat:
»Ich weiß wahrhaftig nicht, meine Herren, wie eine Seele bei dem bloßen Gedanken an die unendlichen Stapel von Schriftwerken, die sich in der Welt ansammeln, den Mut bewahren kann. Was gibt es für den Geist Schwindelerregenderes, Verwirrenderes, als die golden geharnischten Wände einer Bibliothek zu betrachten; und was ist Niederdrückenderes zu sehen als die Bücherbänke, jene Brüstungen aus Geisteswerken, die auf den Uferstraßen sich bilden; jene Millionen von Bänden und Broschüren, gestrandet an den Ufern der Seine, wie geistige Wracks, ausgesondert vom Zeitenfluß, der sich ihrer entledigt und sich von ihren Gedanken reinigt?«[14]
Dieser Leseexzess hat bei France zum Verlust seiner Originalität geführt. Denn genau das ist aus Sicht Valérys die Hauptgefahr, die das Lesen für einen Schriftsteller darstellt, weil es ihn in Abhängigkeit zu anderen bringt:
»Meine Herren, das gelehrte, feinsinnige Mitglied Ihrer Vereinigung hat der großen Zahl gegenüber kein Unbehagen verspürt. Sein Geist war widerstandsfähiger. Um sich vor solchem Widerwillen und vor dem Schwindel, den die Statistik erregt, zu bewahren, hatte er nicht nötig, nur sehr wenig zu lesen. Fern von allem Gefühl der Bedrücktheit, regte ihn dieser Reichtum an, dem er soviel Belehrung und glückliche Wirkungen für Art und Bedarf seiner Kunst entnahm.
Man hat nicht unterlassen, ihm hart und unverständig vorzuwerfen, um so viele Dinge zu wissen und sich seines Wissens wohl bewußt zu sein. Was sollte er denn tun? Was tat er anderes, als was seit je geschieht? Es gibt nichts Originelleres, als daß man den Schriftstellern eine Art von Verpflichtung auferlegt, in jeder Hinsicht originell zu sein.«[15]
Einer der Schlüssel zur Lektüre des Textes ist in der Formel zu finden, die sich antithetisch zu Frances Vorgehen verhält, »zu ignorieren, was man weiß«. Die Bildung trägt die Bedrohung in sich, in den Büchern der anderen stecken zu bleiben, was unbedingt zu vermeiden ist, will man selbst schöpferisch sein. Kurz, France, der keinen persönlichen Weg zu finden wusste, ist geradezu ein Paradebeispiel für die schädlichen Folgen des Lesens, und man versteht, dass Valéry nicht nur sorgsam darauf achtet, kein einziges Mal aus seinem Werk zu zitieren oder es auch nur zu erwähnen, sondern sogar seinen Namen zu nennen, als könnte schon das Aussprechen ihn in einen identischen Prozess des Selbstverlusts verwickeln.
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Das Problem bei diesen »Würdigungen« Prousts oder Anatole Frances ist, dass sie Misstrauen streuen auf alle anderen Texte, die Valéry Schriftstellern gewidmet hat, weil man sich unweigerlich fragt, ob er sie gelesen oder wenigstens kurz überflogen hat. Sobald Valéry zugibt, dass er wenig liest, sich aber mit seiner Meinung trotzdem nicht zurückzuhalten gedenkt, wird auch die kleinste, noch so harmlose seiner kritischen Bemerkungen suspekt.
Seine Huldigung an den dritten großen Namen aus dem Geistesleben der ersten Jahrhunderthälfte, Henri Bergson, ist nicht gerade dazu angetan, diese Sorge zu entkräften. Der Text mit dem Titel »Rede auf Bergson«[16] stammt von einer Konferenz der Académie Française vom Januar 1941 anlässlich des Todes des Philosophen. Er beginnt auf ziemlich klassische Weise mit der Erwähnung seines Sterbens und seiner Beisetzung, um dann in reinster Diplomatensprache mit einer Aufzählung seiner Qualitäten fortzufahren:
»Er war der Stolz unserer Akademie. Ob wir von seiner Metaphysik eingenommen waren oder nicht, ob wir ihm in seiner tiefgehenden Suche, der er sein ganzes Leben gewidmet hat, und in der wahrhaft schöpferischen Entwicklung seines immer kühneren und freieren Denkens gefolgt sind oder nicht, wir hatten in ihm das authentischste Beispiel der höchsten intellektuellen Tugenden.«[17]
Nach einer solchen Einleitung dürfte man eigentlich erwarten, dass diese Komplimente eine Spur von Rechtfertigung erfahren und Valéry – warum nicht? – sein Verhältnis zu Bergson etwas näher ausführen würde. Diese Hoffnung aber gibt der Leser rasch auf, denn die Formel, die den nächsten Abschnitt einleitet, ist zu denen zu zählen, die man gewöhnlich für Kommentare zu nicht gelesenen Texten reserviert:
»Ich werde nicht auf seine Philosophie eingehen. Dies ist nicht der Augenblick, eine Untersuchung vorzunehmen, die gründlich sein soll und dies nur sein kann im Licht heller Tage und in der vollen Entfaltung des Denkens.«[18]
Es steht im Falle Valéry ganz zu befürchten, dass die Weigerung, auf Bergsons Philosophie einzugehen, keine Floskel ist, sondern wörtlich genommen werden muss. Und die Fortsetzung des Textes wirkt nicht gerade beruhigend, was Valérys Kenntnis seines Denkens betrifft:
»Die sehr alten und folglich sehr schwierigen Probleme, die Bergson behandelt hat, wie das Problem der Zeit, das des Gedächtnisses, und vor allem das der Entwicklung des Lebens, sind von ihm neu gestellt worden, und er hat damit die Lage der Philosophie, wie sie sich noch vor fünfzig Jahren in Frankreich darstellte, erstaunlich verändert.«[19]
Dass sich Bergson mit der Zeit und dem Gedächtnis auseinandergesetzt hat – welcher Philosoph hat das nicht? –, sagt noch nicht viel aus über sein Werk oder dessen Originalität. Lässt man die wenigen Zeilen über die Gegenüberstellung von Bergson und Kant außer Acht, bleibt der Text so vage, dass er sich zwar wunderbar auf Bergson anwenden lässt, genauso jedoch auf viele andere Autoren, die von diesen konventionellen hagiografischen Floskeln ebenso zutreffend beschrieben würden.
»Bergson, diese sehr erhabene, sehr reine, sehr überlegene Gestalt des denkenden Menschen – vielleicht einer der letzten Menschen, die ausschließlich, gründlich und überlegen gedacht haben werden in einer Epoche der Welt, da die Welt immer weniger denkt und nachsinnt, da die Zivilisation sich Tag um Tag mehr auf die Erinnerung zu beschränken scheint, auf die Reste, die wir von ihrem vielgestaltigen Reichtum und ihrer freien und überströmenden intellektuellen Produktion bewahren, während Elend, Angst, Zwang aller Art die Unternehmungen des Geistes beeinträchtigen oder behindern –, Bergson scheint bereits einem vergangenen Zeitalter anzugehören, und sein Name erscheint uns wie der letzte große Name in der Geschichte der europäischen Intelligenz.«[20]
Offensichtlich kann Valéry es nicht lassen, mit einer Gehässigkeit zu schließen, schafft es doch die freundliche Wendung »der letzte große Name in der Geschichte der europäischen Intelligenz« nur mit Mühe, die Härte der vorangehenden abzumildern, mit der Bergson charmant in ein »vergangenes Zeitalter« abgeschoben wird. Wenn man sie liest und Valérys Leidenschaft für die Bücher kennt, muss man annehmen, dass er die überholte Stellung des Philosophen innerhalb der Ideengeschichte vor allem zu Protokoll nimmt, um seine Werke nicht aufschlagen zu müssen.
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Diese Praxis der Kritik ohne Autor und Text hat nichts Absurdes an sich. Sie beruht bei Valéry auf einem fundierten Begriff von Literatur, dessen einer СКАЧАТЬ