Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Pierre Bayard
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Название: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Автор: Pierre Bayard

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783888978562

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СКАЧАТЬ Musils Bibliothekar mir weise erscheint, dann durch diese Vorstellung des »Überblicks«, und ich bin versucht, seine Ansichten über die Bibliotheken auf die gesamte Kultur anzuwenden: Wer seine Nase in die Bücher steckt, ist für die Kultur verloren, sogar für das Lesen. Denn bei der immensen Anzahl aller existierenden Werke muss notgedrungen eine Entscheidung getroffen werden zwischen dieser Gesamtsicht und dem einzelnen Buch, und jedes Lesen bedeutet angesichts des schwierigen und zeitraubenden Versuchs, das Ganze in den Griff zu bekommen, einen Energieverlust.

      Die Weisheit dieser Haltung liegt in erster Linie in der Bedeutung, die sie dem Gedanken der Gesamtheit einräumt, weil sie damit zu verstehen gibt, dass die wahre Bildung so umfassend wie möglich sein muss und sich nicht auf das Anhäufen von Einzelwissen beschränken darf. Und darüber hinaus führt die Suche nach dieser Ganzheit zu einem anderen Blick auf das einzelne Buch, denn man lässt dabei dessen Individualität hinter sich, um sich für die Beziehungen zu interessieren, die es zu den anderen unterhält.

      Und genau diese Beziehungen muss der wahre Leser zu erfassen suchen, wie es Musils Bibliothekar richtig verstanden hat. So interessiert er sich wie viele seiner Berufskollegen weniger für die Bücher als für die Bücher über die Bücher:

      Verbindungen und Anschlüsse, das muss der gebildete Mensch zu begreifen suchen, und nicht das eine oder andere Buch im Besonderen, so wie ein Verantwortlicher des Schienenverkehrs auf die Zugverbindungen achten muss, das heißt auf die Kreuzungspunkte und Anschlüsse, und nicht auf den Inhalt des einen oder anderen Waggons. Mit dem Bild des Schädels wird diese Theorie, nach der im Bereich der Kultur die Beziehungen unter den Gedanken wichtiger sind als die Gedanken selbst, noch weiter verdeutlicht.

      Natürlich ist die Behauptung des Bibliothekars, kein einziges Buch zu lesen, mit Vorsicht zu genießen, denn schließlich interessiert er sich sehr genau für die Bücher über die Bücher, für die Kataloge. Diese aber haben einen ganz besonderen Status und sind eigentlich nicht viel mehr als Listen. Doch sie haben das Verdienst, diese Beziehung zwischen den Büchern visuell zu veranschaulichen, für die jeder empfänglich sein muss, der, gerade weil er sie leidenschaftlich liebt, in der Lage sein möchte, gleichzeitig eine große Anzahl von ihnen in den Griff zu bekommen.

      ∗

      Dieser Gedanke des »Überblicks«, der dem Vorgehen des Bibliothekars zugrunde liegt, ist von großer praktischer Bedeutung, denn seine intuitive Erkenntnis ist es, die einigen Privilegierten die Mittel in die Hand gibt, sich relativ unbeschadet aus der Affäre zu ziehen, wenn sie in bestimmten Situationen auf frischer Tat der Unwissenheit überführt werden könnten.

      Die Gebildeten wissen es – vor allem aber wissen es die Ungebildeten zu ihrem Unglück nicht –, dass Bildung in erster Linie eine Sache der Orientierung ist. Gebildet zu sein bedeutet nicht, das eine oder andere Buch gelesen zu haben, es bedeutet, sich in der Ganzheit aller Bücher zurechtzufinden, also als Erstes zu wissen, dass sie eine Ganzheit bilden, und dann in der Lage zu sein, jedes einzelne Element im Zusammenhang mit den anderen einzuordnen. Auf das Innere kommt es hier weniger an als auf das Äußere, oder, wenn man will, das Innen eines Buches ist sein Außen, da es bei jedem Buch auf die Bücher neben ihm ankommt.

      Daher ist es für einen gebildeten Menschen unwichtig, ob er ein bestimmtes Buch gelesen hat oder nicht, da er, auch ohne über seinen Inhalt genau unterrichtet zu sein, oft fähig ist, seine Stellung zu erfassen, das heißt die Art und Weise, wie es sich im Verhältnis zu den andern situiert. Diese Unterscheidung zwischen Inhalt eines Buches und seiner Stellung ist ganz entscheidend, ist sie es doch, die es jemandem, den Bildung nicht schreckt, erlaubt, sich problemlos zu jedem beliebigen Thema zu äußern.

      Mehr noch, wie wir weiter unten bei der Analyse der Machtverhältnisse sehen werden, die beim Sprechen über unsere Lektüre im Spiel sind, sehe ich mich durchaus in der Lage, ohne jede Scham über mein Nichtlesen von Joyce zu reden. Tatsächlich besteht meine geistige Bibliothek eines Intellektuellen wie jede andere aus Löchern und Lücken, was aber im Grunde keine Bedeutung hat, da sie so ausreichend bestückt ist, dass eine bestimmte leere Stelle nicht auffällt, geht doch jeder Diskurs ohnehin sehr schnell von einem Buch zum nächsten über.

      Die meisten Gespräche über ein Buch haben, auch wenn es anders scheinen mag, weniger mit ihm selbst als mit einem weit größeren Ganzen zu tun, mit der Gesamtheit aller wichtigen Bücher, auf der eine bestimmte Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt beruht. Diese Gesamtheit werde ich von nun an kollektive Bibliothek nennen, und auf sie kommt es in Wirklichkeit an, denn ihre Beherrschung ist in einem Gespräch über Bücher gefragt. Diese Beherrschung aber ist eine Beherrschung der Beziehungen und nicht eines bestimmten isolierten Elements und verträgt sich wunderbar mit dem Unwissen über einen bestimmten Teil des Ganzen.

      Somit hört ein Buch, sobald es in unser Wahrnehmungsfeld tritt, auf, unbekannt zu sein, und nichts über es zu wissen bedeutet absolut kein Hindernis, von ihm zu träumen oder zu reden. Noch bevor ein gebildeter, neugieriger Mensch ein Buch aufgeschlagen hat, kann schon sein Titel oder ein kurzer Blick auf den Umschlag eine Reihe von Bildern und Eindrücken bei ihm hervorrufen, die nur darauf warten, in eine erste Meinung verwandelt zu werden, die noch befördert wird durch die Vorstellung, welche die Allgemeinbildung über das Ganze der Bücher bietet. So kann eine noch so flüchtige Begegnung mit einem von ihnen, selbst wenn er es nie aufschlagen wird, für den Nichtleser der Anfang einer authentischen persönlichen Annäherung sein – und gibt es nicht unter Umständen unbekannte Bücher, die diesen Status bereits bei der ersten Begegnung verlieren?

      ∗

      Das Besondere am Nichtlesen von Musils Bibliothekar besteht im Grunde darin, dass seine Haltung nicht passiv, sondern aktiv ist. Zahlreiche gebildete Menschen sind Nichtleser, und umgekehrt sind zahlreiche Nichtleser gebildete Menschen, da das Nichtlesen nicht einfach die Abwesenheit des Lesens bedeutet. Es stellt eine aktive Tätigkeit dar, die darin besteht, sich in Bezug auf die Unermesslichkeit der Bücher zu organisieren, um sich nicht von ihnen überwältigen zu lassen. In diesem Sinne verdient das Nichtlesen verteidigt und gar unterrichtet zu werden.

      Nun gleicht nichts, zumindest für ein ungeübtes Auge, dem Ausbleiben des Lesens mehr als das Nichtlesen, und niemand scheint jemandem, der nicht liest, näher СКАЧАТЬ