Название: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Автор: Pierre Bayard
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783888978562
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So ist also die Meinung anderer entscheidend, um seine eigene Ansicht zu formulieren, ja, man kann sich sogar vollständig auf sie stützen, sodass man – nehmen wir an, das ist für Valéry der Fall – keine einzige Zeile des Textes gelesen haben muss. Das Dumme an diesem blinden Vertrauen in andere Leser ist nur, wie er unumwunden eingesteht, dass es schwierig ist, im Kommentar durch Genauigkeit zu glänzen:
»Andere werden genau und gründlich über ein so starkes und feinsinniges Werk sprechen. Wieder andere werden darstellen, was der Mensch war, der es schuf und zum Ruhm brachte; vor vielen Jahren habe ich es nur gerade eben eingesehen. Ich kann hier nur eine Meinung ohne Kraft und beinahe unwürdig, geschrieben zu werden, vortragen. Es ist nur eine Ehrung, eine vergängliche Blume auf einem Grab, das dauert.«[6]
Sieht man über Valérys Zynismus hinweg und trägt stattdessen seiner Ernsthaftigkeit Rechnung, so muss man zugeben, dass die paar Seiten über Proust, die auf diese Einleitung folgen, einen Kern Wahrheit enthalten, denn sie zeigen etwas, das wir immer wieder selbst feststellen können, nämlich dass es keineswegs nötig ist, seinen Gesprächsgegenstand zu kennen, um sich korrekt darüber zu äußern.
Nach der Einleitung spaltet sich der Artikel in zwei Teile. Der erste handelt vom Roman im Allgemeinen, wobei sich Valéry offensichtlich nicht lange mit genauen Betrachtungen abzugeben gedenkt. So erfährt man, dass der Roman darauf abzielt, »uns ein oder mehrere imaginäre ›Leben‹ mitzuteilen; er führt Personen ein, setzt Zeit und Raum fest, berichtet Vorfälle«, was ihn von der Poesie unterscheidet und es ihm erlaubt, ohne sehr großen Verlust zusammengefasst oder übersetzt zu werden.[7] Diese Bemerkungen, mögen sie auch für eine ganze Reihe von Romanen Gültigkeit haben, lassen sich allerdings kaum auf Proust anwenden, dessen Werk sich nur schwer zusammenfassen lässt. Im zweiten Teil seines Textes zeigt sich Valéry schon etwas besser inspiriert.
Dieser ist Proust gewidmet, um den man in einer Hommage wohl nicht ganz herumkommt. Nachdem er ihn zu allen anderen Schriftstellern in Beziehung gesetzt hat, von denen er zuvor sprach, hebt Valéry nun doch dessen Besonderheit hervor, ausgehend von der gewiss Proust’schen Vorstellung, dass sein Werk sich auszeichnet durch den »Überfluß an Verknüpfungen, die das geringste Bild so ungezwungen in der eigenen Substanz des Autors fand«. Dieser Fingerzeig auf die Proust’sche Art, die unendlich kleinen Verbindungen jedes Bildes in Szene zu setzen, stellt einen doppelten Vorteil dar. Als Erstes ist es nicht nötig, Proust gelesen zu haben, um dafür empfänglich zu sein, und um dies festzustellen, kann man ihn aufschlagen, auf welcher Seite man will. Darüber hinaus ist dieses Vorgehen strategisch angemessen, da es darauf hinausläuft, den Akt des Herauspflückens selbst und damit also den Verzicht auf das Lesen zu legitimieren.
Tatsächlich kann Valéry sehr geschickt erklären, wie die Anziehungskraft von Prousts Werk mit seiner außerordentlichen Eigenschaft zusammenhängt, dass man ihn auf jeder beliebigen Seite aufschlagen kann:
»Der Reiz seiner Werke ruht in jedem Fragment. Man kann das Buch aufschlagen, wo man will; seine Lebenskraft hängt überhaupt nicht von dem ab, was vorausgeht, gewissermaßen von der erworbenen Illusion; sie beruht in dem, was man die Selbsttätigkeit seines Textgewebes nennen könnte.«[8]
Valérys Geniestreich besteht darin, dass er sich für die Theorie zu seiner Lektürepraxis auf den Autor beruft, den zu lesen er nicht vorhat und der geradezu nach seinem Vorgehen verlangt, sodass der Verzicht auf das Lesen noch das beste Kompliment ist, das man ihm machen kann. Und so macht er denn auch, wenn er in den Schlussfolgerungen seines Artikels die »schwierigen Autoren« würdigt, die bald niemand mehr verstehen kann, kein Geheimnis daraus, dass er, hat er seine Aufgabe als Kritiker erfüllt, genauso wenig wie zuvor die Absicht hat, sich an die Lektüre Prousts zu machen.[9]
∗
Wenn die Würdigung Prousts Valéry dazu dient, seine Vorstellung vom Lesen darzulegen, so wird ihm ein anderer bedeutender Zeitgenosse, Anatole France, die Gelegenheit bieten, sein wahres Gesicht zu zeigen und diesmal nicht nur auf den Autor, sondern auch gleich noch auf den Text zu verzichten.
Als Valéry im Jahr 1927 als Nachfolger von Anatole France in die Académie Française aufgenommen wird und dadurch in die Verlegenheit kommt, dessen Nachruf zu verfassen, tut er alles, um der Aufgabe, die er sich in der Einleitung seiner Rede selbst stellt, nicht nachzukommen:
»Der einzige Hilfsquell der Toten sind die Lebenden. Unsere Gedanken sind für sie der einzige Weg zum Licht. Die uns so viel gelehrt haben, die offenbar für uns dahingegangen sind und alle ihre Chancen uns überlassen haben, sie seien – so ist es gerecht und unser würdig – ehrfürchtig in unserem Gedenken empfangen, sie mögen ein wenig Leben aus unseren Worten trinken.«[10]
Wollte Anatole France im Gedächtnis oder in einem Text weiterleben, so hätte er einen anderen finden müssen als Valéry, der sich während seines ganzen Vortrags die größte Mühe gibt, ihm nicht zu huldigen. Tatsächlich ist Valérys Rede nichts anderes als eine nicht abreißende Serie von Gemeinheiten gegen seinen Vorgänger, für den er wiederholt das Prinzip des zweifelhaften Kompliments in Anwendung bringt:
»Das große Publikum war meinem ruhmvollen Vorgänger unendlich dankbar, daß er ihm das reizvolle Gefühl einer Oase verschafft hatte. Der erfrischende Gegensatz seiner abgemessenen Schreibweise zu den geräuschvollen und verwickelten Stilarten, in denen ringsumher geschrieben wurde, rief nur angenehme, freundliche Überraschung hervor. Es schien, als seien Ungezwungenheit, Klarheit und Einfachheit auf die Erde zurückgekehrt. Sie sind ja die gefälligen Göttinnen der Mehrheit. Jeder mußte eine solche Sprache lieben, die sich ohne vieles Grübeln genießen ließ, deren gefällige Natürlichkeit verführte, deren Durchsichtigkeit bisweilen wohl einen Hintergedanken durchscheinen ließ, der aber nicht undeutbar, im Gegenteil stets leicht verständlich, wenn auch nicht immer ganz befriedigend war. Seine Bücher bewiesen eine vollendete Kunst, die gewichtigsten Gedanken und Probleme obenhin zu streifen. Nichts behinderte den schweifenden Blick, außer etwa das Erstaunen selbst, keinem Widerstand zu begegnen.«[11]
Einer solchen Dichte an unterschwelligen Beleidigungen auf so wenigen Zeilen begegnet man nicht jeden Tag, wird doch das Werk Anatole Frances nacheinander als »angenehm«, »freundlich«, »erfrischend«, »gemessen« und »einfach« bezeichnet, was in der Literaturkritik schwerlich als Kompliment aufgefasst werden kann. Und darüber gefällt es – ein letzter Fußtritt – möglicherweise allen. Man kann es genießen, ohne zu grübeln, da die Ideen nur »gestreift« werden, eine Einschätzung, die Valéry auch gleich weiter ausführt:
»Was ist auch reizvoller als die köstliche Illusion der Klarheit, die uns ein Gefühl müheloser Bereicherung, sorgenlosen Genießens, achtlosen Verständnisses, kostenlosen Schauspiels schenkt?
Glücklich die Schriftsteller, die die Last des Denkzwanges von uns nehmen und mit leichter Hand ein reizvolles Trugbild um die komplizierte Gestalt aller Dinge weben!«[12]
Stellt Valérys Huldigung auf Anatole France nichts als eine Anhäufung von Gemeinheiten dar, so stimmt der Text durch seine Vagheit umso nachdenklicher, als ob Valéry auf keinen Fall den Eindruck erwecken möchte, er habe Anatole France gelesen, da dies seiner Meinung über ihn widersprochen hätte. Nicht СКАЧАТЬ