Название: Christlich-soziale Signaturen
Автор: Группа авторов
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783950493948
isbn:
Aus diesem falsch verstandenen Pragmatismus – gepaart mit einem Mangel an außermaterialistischen Überzeugungen und dem Fehlen eines positiven Menschenbilds – entsteht für Alois Mock, den Vordenker eines ganzheitlichen christlich-sozialen Politikstils, inhaltliche Beliebigkeit, schlimmstenfalls sogar politische Orientierungslosigkeit. Mock hielt ein christliches Menschenbild für den wesentlichen Bestandteil von Sozialpolitik: „Ich wage zu behaupten, dass es allein die christdemokratischen Parteien sind, die nach einem gesellschaftlichen Modell Politik machen. Wer vertritt denn heute noch einen der acht bis zehn Grundsätze, die zur Gründung der sozialistischen Parteien geführt haben? Wahlen gewinnen sie nur, wenn sie den Sozialismus verstecken.“1
Die neuen sozialen Fragen lassen sich nicht mit dem überlieferten Instrumentarium der Sozialpolitik der Nachkriegszeit befriedigend beantworten. Zu oft beschränkt sich Sozialpolitik auf die Alimentierung der aus dem Erwerbsprozess Herausgefallenen. Eine neu entstandene, im Feuilleton mit einer Mischung aus Ekel und distanziertem Entsetzen beschriebene Unterschicht hat schmerzhaft aufgezeigt, dass die Logik der passiven Transferzahlung langfristig alles andere als sozial verträglich ist. Vielmehr entlässt sie die Menschen in die Unmündigkeit und schürt eine Unzufriedenheit, die nur allzu oft zu Gewalt und anderen sozialen Problematiken führt.
Die Selbstgenügsamkeit der traditionellen Sozialpolitik mit ihren abstrakten Solidaritätsgesten vergaß dabei, den notwendigen Beitrag jeder einzelnen Person für das Gemeinwohl einzufordern. Jetzt geht es darum, „Narrative des Sozialstaates“ (Meyer) zu finden, die die Interessenkonflikte zwischen Individuum und Gemeinwohl sowie zwischen Kapital und Arbeit zum Wohle der Gesamtgesellschaft minimieren. Eingelernte Verhaltensmuster, beliebte Sündenböcke und altgediente Feindbilder müssen hinterfragt werden. Es ist beispielsweise nicht sozial, wenn der Mittelstand in Österreich knapp 42 Prozent der Lohn- und Einkommensteuer entrichten muss, weshalb die neue Volkspartei klar für Steuerentlastungen eintritt. Es ist beispielsweise nicht sozial, wenn die gesellschaftliche Durchlässigkeit in Österreich erschreckend gering ist. Und schließlich: Es ist generell nicht sozial, wenn Partikularinteressen als bedeutender als Gesamtinteressen angesehen werden. Um den Sozialstaat neu zu denken, braucht es also einen theoretischen Überbau, der Sozialpolitik nicht in eigentlich zynischer Art und Weise mit der Auszahlung von Geld zur Befriedigung kurzfristiger Konsumanreize verwechselt. Das Ziel von Sozialpolitik muss sein, Menschen langfristig bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu unterstützen und sie zu befähigen, selbst ihr Leben zu finanzieren und zur Gemeinschaft beizutragen.
Nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus verbleiben die christliche Soziallehre, die „soziale Demokratie“2 und die liberale Demokratie als politische Weltanschauungen, die sich mit unterschiedlicher Gewichtung an der sozialen Frage abarbeiten. Während im rein liberalen Diskurs die soziale Frage oft zu einschränkend als Folgeprodukt der Marktwirtschaft betrachtet wird, ist sie für die christliche Soziallehre und die soziale Demokratie eine zentrale Begrifflichkeit, um die Gesellschaft in all ihrer Widersprüchlichkeit zu denken. Während die soziale Demokratie aber materialistisch und immanent argumentiert, fordert die christliche Soziallehre auch nicht-materialistische und transzendente Werte und Begrifflichkeiten ein.
Solche Grundwerte können von Parteien ebenso wenig wie in Verfassungen letztbegründet werden – wie es auch der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem Diktum, wonach „der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann“3, formuliert. Gemeinsame Werte können zwar von der Gesamtgesellschaft anerkannt werden, aber begründen kann diese Werte in pluralistischen Gesellschaften nur der Einzelne. Oberste und letztendliche Wahrheiten kann eine demokratische Politik nicht liefern; politische Parteien begnügen sich mit vorletzten Begründungen und überlassen es dem Gewissen des und der Einzelnen, Entscheidungen schlüssig zu begründen. Stimmige Letztbegründungen für soziale Homogenität und nachhaltige Sozialpolitik findet der Bürger beim Rückgriff auf die großen Weltreligionen und die klassischen philosophischen Ethiken. Neben der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik haben auch der Islam (z. B. mit der Zakat) und das Judentum komplexe Vorschriften für ein sozial verträgliches Miteinander entwickelt.
Christliche Zugänge zum Sozialen
Die katholische Soziallehre fußt auf bestimmten philosophischen Überzeugungen und Prämissen und erhebt daher auch den Anspruch, von jedem, also auch von Nichtchristen, Atheisten und Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften akzeptiert werden zu können. Im Unterschied zur katholischen stellt die evangelische Sozialethik auch ihre theologischen Grundlagen dar und stellt die Frage „Was soll ich tun?“ in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Die evangelische Sozialethik verzichtet auf leitende Prinzipien und bietet dem Einzelnen keine vorgefertigten Handlungsanleitungen an. Vielmehr besinnt sich die evangelische Sozialethik auf den Kern der christlichen Botschaft und fordert den Einzelnen auf, bei der weltlichen Gestaltung aktiv mitzuarbeiten. Als Leitfaden und Einstieg in die Grundfragen der evangelischen Ethik bietet sich die „Barmer Theologische Erklärung“ des Jahres 1934 an.
Die katholische Kirche hat neben dem Primat des Gewissens als menschliche Leitinstanz zusätzlich eine Soziallehre entwickelt. Unter dem Begriff „katholische Soziallehre“ versteht man kirchliche und päpstliche Schriften zu sozial relevanten Themen und Fragestellungen. Die erste Abhandlung aus dem Jahre 1892 verfasste Papst Leo XIII. unter dem Titel „Rerum novarum“, wo der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sowie die Ausbeutung der Lohnarbeiter thematisiert wurden. Sie ist vor allem eine Erwiderung an den damals entstehenden Sozialismus. Eine Vielzahl weiterer Sozialenzykliken4 folgte und zum 100. Jubiläum des sozialen Lehramts der Kirche veröffentlichte Papst Johannes Paul II. mit „Centesimus annus“ eine Jubiläumsenzyklika. In diesen hundert Jahren haben sich auch die bleibenden Prinzipien der katholischen Soziallehre herausgebildet und weiterentwickelt. Die grundlegenden Prinzipien der Soziallehre bilden „den wahren und eigentlichen Angelpunkt“5 und erheben den Anspruch, die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit deuten zu können. Damit behaupten und reklamieren sie einen „allgemeinen und grundlegenden“ Charakter für sich und verstehen sich als philosophisches System, das sich sowohl aus den Quellen der Bibel als auch aus Erkenntnissen der Sozialethik speist.
Die katholische Soziallehre ist ein philosophisch-logisch argumentierendes Ordnungssystem, das mit seinen Prinzipien und Axiomen explizit auch Gläubige anderer Konfessionen und Agnostiker ansprechen und vertreten will. Im Unterschied zu den vorletzten Begründungen von Politik und Interessenvertretungen beanspruchen die vier Grundprinzipien eine a priori für jeden Menschen moralische Bedeutung, da sie „auf die letzten und Richtung gebenden Grundlagen des sozialen Lebens verweisen. […] Die Prinzipien bilden in ihrer Gesamtheit jene ersten Formulierungen der Wahrheit, die jedes Gewissen dazu aufrufen und einladen, in Freiheit und voller Mitverantwortlichkeit mit allen und für alle zu handeln.“6 In diesem universalen Geltungsanspruch steckt auch die Rückbindung an die moralische Verpflichtung jedes Einzelnen, diese Prinzipien aktiv zu leben und zu befolgen, um gemäß dem göttlichen Schöpfungsauftrag zu handeln. Das klingt in säkularen und aufgeklärten Gesellschaften bisweilen fremd und unverständlich, wird aber durch das Diktum der Gottesebenbildlichkeit jedes einzelnen Menschen klarer: Wenn ich meinen Mitmenschen – gleich ob gläubig oder ungläubig – als Gottes Ebenbild betrachte, werde ich ihn respektvoller behandeln, als wenn ich ihn als „arrivierten Affen“ oder noch „nicht festgestelltes Tier“ (Nietzsche) sehe. Mit dem sich ebenfalls als universaler Geltungsanspruch anmeldenden Kant’schen kategorischen Imperativ und den Menschenrechten, die jedoch ohne transzendente und überzeitliche Versprechungen auskommen müssen, bietet die katholische Soziallehre Leit- und Richtlinien für sozial verträgliches Zusammenleben an. Dabei formuliert sie im Unterschied zu anderen katholischen Lehrbereichen keine Dogmen, sondern möchte mit den Prinzipien konkrete Hilfestellungen für alltägliche Situationen anbieten.